Tiffany Jacob, Psychologin an der Seeklinik Brunnen, erklärt, weshalb der Mensch gerne in andere Rolle schlüpft. Bild: Christoph Clavadetscher
Tiffany Jacob, Psychologin an der Seeklinik Brunnen, erklärt, weshalb der Mensch gerne in andere Rolle schlüpft. Bild: Christoph Clavadetscher

Dies & Das

«Fasnacht ist eine sozial akzeptierte Art der Grenzüberschreitung»

Was ist an der Fasnacht erlaubt? Wo sind die Grenzen? Wieso schlüpfen wir gerne in andere Rollen und verstellen uns? Tiffany Jacob, Psychologin der Seeklinik Brunnen, gibt Antworten zur Fasnacht und der Psyche des Menschen.

Mit Tiffany Jacob sprach Christoph Clavadetscher


Christoph Clavadetscher: Während der Fasnacht toben sich viele Schwyzerinnen und Schwyzer so richtig aus. Gibt es dafür eine psychologische Erklärung?


Tiffany Jacob: Es ist ein natürliches Bedürfnis des Menschen, nach Balance zu streben, was im medizinischen Bereich als Homöostase bezeichnet wird. Dass ein Mensch neben seinem strengen und geregelten Alltag also auch nach einem Ausgleich und einer für ihn passenden Freizeitgestaltung sucht, ist ganz normal. Für viele Schwyzerinnen und Schwyzer gehört zu diesem Ausgleich auch die Fasnachtszeit.


Braucht der Mensch ein Ventil, um «Dampf» abzulassen?


Studien zeigen, dass «Dampf ablassen» im Sinne von Katharsis – also zum Beispiel, dass durch das Schlagen auf einen Boxsack negative Emotionen wie Wut oder Ärger reduziert werden – nicht funktioniert oder wenig zielführend ist. Was der Mensch aber tatsächlich braucht, ist eine für ihn geeignete Möglichkeit, wie er in einen angenehmen Zustand der Entspannung finden kann. Ein solches Ventil – oder anders gesagt ein Hobby – ist etwas sehr Individuelles.


Aber was versteht man denn in diesem Zusammenhang unter Psychohygiene?


Unter Psychohygiene versteht man Massnahmen zum Schutz und zur Erhaltung der psychischen Gesundheit. Was das im Einzelfall bedeutet, kann sehr individuell sein. Für den einen gehört zur Psychohygiene, sich nach einem anstrengenden Arbeitstag mit einem guten Freund austauschen zu können, für den anderen, ins Fitnessstudio zu gehen. Für wiederum andere kann zur Psychohygiene gehören, einen Fasnachtsumzug zu besuchen oder einer Guuggenmusig beizutreten.


Ist die Fasnacht nicht nur eine Ausrede, um sich masslos verhalten zu dürfen und sich für einmal nicht an Regeln halten zu müssen?


Die Fasnacht ist eine ausgeklügelte Möglichkeit, einmal Grenzen überschreiten zu dürfen, und dennoch folgt das Fasnachtsbrauchtum eigenen Gesetzen. Man könnte sagen, es ist eine sozial akzeptierte Art der Grenzüberschreitung und in diesem Widerspruch psychologisch sehr interessant.


An der Fasnacht ist somit mehr erlaubt als sonst?


Allein die Maskierung ist schon mehr, als wir sonst im Alltag dürfen. Und man darf ein anderer sein, sich quasi aus den Originalgwändli oder den Randfiguren einen Charakter aussuchen. Auch die Guuggenmusig ist mehr, als man sonst darf. Unter dem Jahr musizieren wir nicht auf der Strasse.


Wo sind denn die Grenzen?


Grenzen entstehen immer da, wo jemand involviert wird, der es nicht wünscht. Die Maske sollte nicht dazu dienen, Unbeteiligte anonym zu belästigen.


Der Alkohol wirkt enthemmend. Ist dies positiv oder negativ?


Alkohol gilt als sozial akzeptiertes Genussgift. Jeder verantwortungsvolle Fasnachtsbesucher sollte Genuss vom Rausch trennen können und die eigene Grenze kennen und einhalten.


Wie wichtig sind Gelegenheiten wie die Fasnacht für den Menschen?


Fasnacht bietet die Gelegenheit, sich mit Gleichgesinnten zu treffen, Spass zu haben und für einen Moment den Alltag zu vergessen und in eine andere Rolle schlüpfen zu dürfen. Solche Auszeiten vom Alltag können für den Menschen sehr wichtig sein. In einem durchgetakteten Lebensalltag mit Regeln und Verpflichtungen kann es für die Seele wohltuend sein, der Musse und dem Genuss zu folgen und für einen Moment einfach sein zu dürfen. Die Fasnacht erfüllt für viele Menschen genau das.


Was würde passieren, wenn sich die Menschen zwischendurch nicht austoben dürften?


Menschen toben sich immer aus und finden Gelegenheiten beim Spiel, beim Feiern, beim Sport oder bei Traditionsveranstaltungen.


Wieso verkleiden sich viele Menschen gerne?


Es kann befreiend sein, einmal jemand anderes sein zu dürfen als sich selbst. Es bietet einem auch die Gelegenheit, sich ausprobieren zu dürfen und vielleicht etwas zu wagen, was man sich sonst nicht getrauen würde. Das Tragen einer Verkleidung oder einer Maske kann einem das Gefühl verleihen, weniger verwundbar zu sein.


Auffallend oft verkleiden sich Männer gerne als Frauen. Wieso?


Warum Menschen den Drang haben, sich immer wieder als Frauen oder Männer zu verkleiden, ist bisher kaum erforscht. Die wenigen grösseren Studien sind jahrzehntealt. Wir können mutmassen, dass der Geschlechterwechsel das grösstmögliche Mass an spannender Grenzüberschreitung darstellt. Und vielleicht ist es eine Fokussierung auf die Macken des anderen Geschlechts.


Wie weit darf die Narrenfreiheit gehen?


Das Hofnarrentum war eine soziale Institution zulässiger Kritik. Seine gesonderte Stellung beziehungsweise die fehlende Bindung an gesellschaftliche Normen ermöglichte dem Narren einen besonders grossen Handlungsfreiraum – da alles, was er sagte, aufgrund seiner Narrheit nicht ernst genommen wurde. Darauf begründet sich der heute noch viel verwendete Begriff der Narrenfreiheit. Diese Freiheit darf kritisch, witzig, ironisch und geistreich sein. Narrenfreiheit ist nie absichtlich verletzend, lästig oder beleidigend. Als Narr darf man sagen, was man denkt.


Verstellen wir uns somit im Alltag zu viel?


Der Schweizer ist es sich von der Sozialisation her tendenziell eher gewohnt, sich an Regeln zu halten, angepasst zu sein, sich zurückzunehmen und gute Arbeit zu leisten. Zur Wahrung der Harmonie sagen wir dann vielleicht auch einmal nicht das, was wir denken, sondern schonen unser Gegenüber. In gewissen Situationen ist das sicherlich angemessen, in anderen vielleicht weniger. Auch hier gilt wieder das Prinzip der Balance und des Gleichgewichts.


Kennen Sie die Innerschwyzer Fasnacht gut?


Ich arbeite in Innerschwyz, wo sich das bunte Treiben quasi unter meinem Bürofenster abspielt. Narren begegnen mir überall und sind omnipräsent in der fünften Jahreszeit. Von gebürtigen Schwyzer Arbeitskollegen durfte ich viel über die Sitten und Gebräuche der Schwyzer Fasnacht lernen.


Gehen Sie selber auch gerne an die Fasnacht?


Ich wohne in Luzern, einer der Hochburgen des Fasnachtstreibens. Besonders gerne sehe ich die Umzüge mit den liebevoll gestalteten Kostümen.


Wie verkleiden Sie sich?


Eher selten und wenn, dann schlicht. In der psychotherapeutischen Arbeit kommt häufig die Technik des Rollenspiels zum Einsatz – das bedeutet einen Rollenwechsel ohne Verkleidung. Ich darf also berufsbedingt ganzjährig in andere Rollen schlüpfen.


Wie lassen Sie Dampf ab?


Ich geniesse gerne Wintersport, Tanz und Yoga. Dabei kann ich gut herunterkommen und die Arbeit hinter mir lassen.

Autor

Bote der Urschweiz

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Publiziert am

02.03.2019

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