Fulminantes Oratarium zum Weltenende: GwandhausChor Leipzig. Bild Carlo Stuppia
Fulminantes Oratarium zum Weltenende: GwandhausChor Leipzig. Bild Carlo Stuppia

Musik

Meilenstein der Raff-Renaissance

Zum 200. Geburtstag des Lachner Komponisten Joachim Raff wurde am Auffahrtstag die Aufführung des Oratoriums «Welt-Ende – Gericht – Neue Welt» durch den GewandhausChor und die Camerata Lipsiensis in der prall gefüllten Lachner Pfarrkirche mit minutenlangen Standing Ovations und tosendem Applaus gefeiert.

Nachdem die Schlussfuge des monumentalen Oratoriums, über dessen Korrekturabzug Joachim Raff 1882 im Alter von 60 Jahren verstarb, mit einem kräftigen «Amen» schloss, herrschte im Kirchenschiff eine geradezu magische Stimmung. Während zwei Stunden hatten der renommierte Leipziger GewandhausChor und die Camerata Lipsiensis unter der Leitung von Gregor Meyer sowie der Bariton Andreas Wolf und die Mezzosopranistin Marie Henriette Reinhold die Geschehnisse rund um die biblische Apokalypse, die schrecklichen Katastrophen und die Ängste, aber auch die Hoffnungen der Gläubigen mit geradezu erstaunlicher Vitalität und Präzision zum Leben erweckt.

Neues (altes) Klanggewand


Das gut 50-köpfige Orchester, das sich durch seine fundierte Arbeit mit historischem Instrumentarium auszeichnet, liess die farbenreiche und vielseitige Partitur, die zehn instrumentale Intermezzi beinhaltet, in einem völlig neuen Glanz schillern – insbesondere die Holz- und Blechbläsersätze. Mit dem schlanken Klanggewand eröffnete sich für die Musik des von den Zeitgenossen als Instrumentations-genie gerühmten Komponisten, die in heutiger Zeit fast ausschliesslich von modernen Orchestern aufgeführt und eingespielt wird, weite Horizonte. Gregor Meyer leitete die Aufführung mit viel Umsicht, kostete die zahlreichen ruhigen, geradezu meditativen Passagen genüsslich aus, liess aber auch heftige Steigerungen und violente Ausbrüche mit Paukendonner zu. Auch der Chor setzte die Kontraste der Partitur mit viel Effekt um – was im doppelchörigen Satz «Die Guten und die Bösen» (ein musikalisches Äquivalent zu mittelalterlichen Altarbildern des Jüngsten Gerichts), der zwischen der Klage der Verdammten und der Freude der Erlösten auf engstem Raum hin- und herchangiert, besonders deutlich zum Tragen kam. Andreas Wolf führte als Johannes mit beeindruckender Textverständlichkeit durch das endzeitliche Szenarium; die damit kontrastierende und in der Partitur als «eine Stimme» bezeichnete Partie verkörperte Marie Henriette Reinhold auf innigste Weise mit wundervollen an- und abschwellenden Haltenoten.

Erschreckende Aktualität


Während der Aufführung rückte das Allgemein-Menschliche der für viele heutigen Zeitgenossen wohl eher kryptischen Johannes-Offenbarung in den Vordergrund: Besonders Raffs orchestrale Porträts der vier apokalyptischen Reiter (Seuche, Krieg, Hunger, bzw. Tod und Hölle) erhielten durch die Weltgeschehnisse der letzten Jahre auch im zuvor lange Zeit diesbezüglich weitgehend verschonten Herzen Europas erschreckende Aktualität. Im Schlussteil, der die «Neue Welt» porträtiert, bleibt Raff über weite Strecken verhalten – und damit erstaunlich visionär. Eine «Stunde Null» gibt es eben auch nach der Apokalypse nicht. Das von SRF aufgezeichnete Konzert erwies sich in jeglicher Hinsicht als würdiger Höhepunkt der Lachner Jubiläumsjahr-Feier und als Meilenstein in der aktuellen Raff-Renaissance, der noch lange nachhallen wird. Am 6. Juni wird das Werk im Leipziger Gewandhaus aufgeführt; eine Einspielung für das Label cpo folgt.


Höfner Volksblatt und March-Anzeiger / Severin Kolb

Autor

Höfner Volksblatt & March Anzeiger

Kontakt

Kategorie

  • Musik

Publiziert am

30.05.2022

Webcode

www.schwyzkultur.ch/g6XM8v