À la Gare de Courgenay, in Schürze, in den 1920er-Jahren: Die legendäre Serviertochter Gilberte Montavon. Der Film Gilberte de Courgenay, gespielt von Anne-Marie Blanc, erlangte später nationalen Ruhm.
À la Gare de Courgenay, in Schürze, in den 1920er-Jahren: Die legendäre Serviertochter Gilberte Montavon. Der Film Gilberte de Courgenay, gespielt von Anne-Marie Blanc, erlangte später nationalen Ruhm.

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«Meine Grossmutter war deutlich temperamentvoller und zackiger»

«Meine Grossmutter war deutlich temperamentvoller und zackiger» Die Einsiedlerin Christine Doerfel erzählt im Inter-view über ihre berühmte Grossmutter Gilberte Montavon alias de Courgenay – die durch ein Lied und ein nationales Film-epos bekannt wurde. Doch war sie bereits vorher vielen bekannt, besonders im Welschland.

Quasi inkognito lebt im Klosterdorf seit gut 40 Jahren die 65-jährige Geografin, deren Leidenschaft historische Kulturlandschaften sind – deren ruhmreiche Familienvergangenheit aber bislang wenig bekannt war. Ist sie doch die Enkelin der legendären Wirtstochter Gilberte de Courgenay aus dem Jura, die im Ersten Weltkrieg Soldaten im Hôtel de La Gare die ungewisse Zeit zu bewältigen half und sich teils mütterlich, teils kameradschaftlich um sie kümmerte. Nicht nur das Lied «La Petite Gilberte» resultierte als Hommage an die damals 18-Jährige, die nicht nur viel Bier im elterlichen Hotel de la Gare in Courgenay ausschenkte, sondern sogar ein Weihnachtsfest für die Militärs ausrichtet. Auch der gleichnamige Film – ein nationales Epos – resultierte 1941 aus dieser Geschichte und diente dazu, die Moral der schweizerischen Truppen in Gestalt der «geistigen Landesverteidigung » zu stärken: im Zweiten Weltkrieg. Angesichts der aktuellen Chärnehus-Ausstellung «Leben, Überleben. Einsiedeln 1939 bis 1945» wurde Christine Doerfel in der Cineboxx während einer Filmvorführung zu «Gilberte de Courgenay» plötzlich bekannt.

Wolfgang Holz: Frau Doerfel, wie kommt es, so lange unerkannt in Einsiedeln mit so einer bekannten Familiengeschichte zu leben?


Mein Bekanntwerden in Bezug auf meine berühmte Grandmaman steht tatsächlich einzig und allein mit der jüngsten Chärnehus-Filmaufführung von «Gilberte de Courgenay» in Zusammenhang. Ich lebe ja schon seit über 40 Jahren mit meinem Mann und meinen mittlerweile erwachsenen Kindern in Einsiedeln. Aber bei einer Zugezogenen aus Zürich wird nun mal nicht nachgefragt, von wem sie abstammt – ganz anders wie etwa bei einem Kälin. Andererseits hat meine Grossmutter ja nichts mehr mit der jetzigen Zeit oder mit dem Alltag zu tun – selbst wenn heute noch Rekruten das Lied der «Petite Gilberte» mit Inbrunst singen. Ausserdem ist die Geschichte meiner berühmten Grossmutter zwar ein Teil meiner Geschichte, aber nicht mein Verdienst.

Apropos. Ihre Grossmutter starb 1957 in Zürich, kurze Zeit nachdem Sie 1956 in Zürich auf die Welt gekommen sind. Sie kennen sie eigentlich gar nicht. Und trotzdem hat man Ihnen viel über sie erzählt. Wie haben Sie den Zugang zu ihr gefunden?


Es gehört zu meiner Lebensgeschichte, dass ich als Säugling unmittelbar nach meiner Geburt ins Bethanien-Spital gebracht wurde, um Gilberte noch gezeigt zu werden, bevor sie starb. Sie lebte dann aber noch neun Monate weiter. Mein Bezug zu ihr war also die mündliche Überlieferung meines persönlichen Umfelds. Und es spielten nicht zuletzt viele Gegenstände, Bilder, Fotografien im grossen Haushalt meiner Grossmutter eine Rolle, die mit dem Kaufmann Ludwig Schneider verheiratet war und in einer Jugendstil-Wohnung am Zürichberg gewohnt hatte – unweit unseres eigenen Hauses. Diese Welt der Dinge brachte mir Gilberte lebendig nahe. Ich verbrachte im Haus meiner Grossmutter Gilberte Schneider-Montavon als Kind viel Zeit, insbesondere kümmerte sich das Hausmädchen Viktoria Mayer, das aus Süddeutschland stammte, rührend um mich und meinen Bruder. Sie, die auch im Familiengrab beigesetzt wurde, war meine Ersatzgrossmutter.

Haben Sie Ihre Grossmutter bewundert?


Es war ein bisschen zwiespältig. Zum einen redete meine Mutter nicht viel über Gilberte, weil sie selbst als deren Tochter quasi perfekt und stets ein Vorbild sein musste. Auch ich selbst spürte noch irgendwie einen Druck durch meine berühmte Grossmutter, wenn etwa von mir erwartet wurde, stets französisch sprechen zu müssen, sooft wir unsere Verwandten im Jura besuchten. Doch man erhielt auch viel Respekt, wenn bekannt wurde, dass man mit Gilberte verwandt war.

Da Sie Ihre Grossmutter praktisch persönlich nicht kennenlernen konnten, könnte es ja auch sein, dass Anne-Marie Blanc, die Darstellerin Ihrer Grossmutter im Film, als Stellvertreterin von Gilberte oder sogar als so eine Art Doppelgängerin fungierte?


Das ist eine interessante Frage (denkt nach). Aber nein, ich habe eigentlich keinen Bezug zu Anne-Marie Blanc. Sie spielt im Film eine junge, schüchterne Frau. Da war meine Grossmutter schon deutlich temperamentvoller und zackiger umrissen, eine echte Welsche eben. Später in Zürich schmiss sie einen grossen Haushalt und empfing gerne regelmässig Gäste. Übrigens hat mir auch mein Grossvater Ludwig Schneider, der 1971 mit 89 starb, viel über meine Grossmutter erzählt. Ihn habe ich noch in lebhafter Erinnerung. Er war sehr wichtig für mich.

Waren Sie eigentlich oft auf Besuch im legendären Hôtel de La Gare in Courgenay, wo Gilberte als Serviertochter im elterlichen Hotel die Soldaten des Artillerieregiments bewirtete?


Ja, früher war man alle zwei, drei Jahre an Familienfesten im Jura. Etwa am 70. Geburtstag meiner Mutter, Jeanne Doerfel, geborene Schneider. Am besten in Schwung brachte die Geschichte von Gilberte und dem Hotel de la Gare aber die Cousine meiner Mutter, Eliane Chytil-Montavon. Sie gab zum einen Führungen, zum anderen brachte sie auch Leben ins Wirtshaus, indem sie, auf dem Klavier von ihrem Bruder begleitet, das Lied «La Petite Gilberte» sang und es schaffte, dass die jungen Enkel von Gilberte aus der Deutschschweiz mitsangen. Das war eine tolle Atmosphäre.

Berührt Sie die Geschichte von Gilberte Montavon alias de Courgenay?


Also, das Lied, finde ich, kommt irgendwie direkter daher als die eigentliche Geschichte der Gilberte. Der Refrain geht mir nach. Leider kann ich das Lied nicht selbstständig intonieren. Das Lied ist dabei eine perfekte Überbrückung des Röstigrabens. Das Lied kommt mir neuerdings öfters wieder in den Sinn. Früher in den Bergkletterlagern, wo ich als Jugendliche mitmachte, kann ich mich erinnern, dass das Lied oft gesungen wurde.

Wie oft haben Sie eigentlich den Film Gilberte de Courgenay schon gesehen?


Im kleinen Bildformat vielleicht zweimal. Im perfekten Breitwandformat, wie neulich in der Einsiedler Cineboxx, das erste Mal.

Die Rolle der Gilberte im Film wird als dienende, mitfühlende Frau interpretiert, die dem Manne untertan ist. Wie stehen Sie zu diesem Frauenbild?


Als Jugendliche ist mir dieses Frauenbild, das im Film vermittelt wird, immer ziemlich gegen den Strich gegangen. Weil es sich um eine nicht selbstbestimmte Frauenrolle handelt. Da war meine Grossmutter in der Realität, soweit ich es aus Erzählungen kenne, deutlich spritziger unterwegs. Sie hat mehr Substanz gehabt, als im Film vermittelt wird.

Könnte man das Lied «La Petite Gilberte» auch mit dem Song von «Lili Marleen» vergleichen, der für deutsche Landser im Zweiten Weltkrieg eine ähnlich stimulierende Funktion hatte?


Vielleicht könnte man so sagen. Auch wenn es bei Lili Marleen mehr um das erotische Liebeserlebnis geht als um die gemeinschaftliche Solidarität von Soldaten und Zivilbevölkerung.

Der Film «Gilberte de Courgenay » ist ja auch zu Propagandazwecken verwendet worden. Stichwort: «Geistige Landesverteidigung.» Was sagen Sie dazu?


Das ist in der Tat ein zu allgemeiner Begriff. Natürlich gab es eine Instrumentalisierung ihrer Person. Es war wichtig, die Moral, den Durchhaltewillen der Truppen und die Einheit im ganzen Land zu stärken. Sicher hat General Guisan daraus einen Nutzen ziehen können. Andererseits gab es viele freundschaftliche, persönliche Verbindungen, die auch nach dem Krieg fortgeführt wurden. So auch mit dem General selbst. Genau wie es im Lied heisst, besass meine Grossmutter ein hervorragendes Gedächtnis und kannte sowohl Namen als auch die dazugehörigen Gesichter und Geschichten vieler Menschen. Das wurde sehr geschätzt. Man hat sie auf der Strasse erkannt und die freundschaftlichen Beziehungen über den Krieg hinaus gepflegt, ja bis zu ihrem Tod. Dies beschreibt auch der Einsiedler Major Karl Oechslin (Goldapfel) 1962 in seinem Memoriam an Gilberte de Courgenay. Die Vernetzungen und Freundschaften aus der Militärzeit sind selbst bei heutigen Generationen immer noch von Bedeutung.

Einsielder Anzeiger / Wolfgang Holz

Autor

Einsiedler Anzeiger

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Publiziert am

04.02.2022

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