Wie oft habe ich diese Partitur schon in den Händen gehalten»: Pater Lukas Helg mit einem der Schätze der Musikbibliothek, dem Original der «Einsiedler Messe». Foto: Victor Kälin
Wie oft habe ich diese Partitur schon in den Händen gehalten»: Pater Lukas Helg mit einem der Schätze der Musikbibliothek, dem Original der «Einsiedler Messe». Foto: Victor Kälin

Musik

«Musik erreicht mehr als jede Predigt»

Gegen 200 Mitwirkende bringen am 2. und 9. Dezember die «Einsiedler Messe» in der Klosterkirche zur Aufführung. Mittendrin steht der 74-jährige Pater Lukas Helg, zum letzten Mal in dieser Funktion.

Der Pater im Gespräch über sein letztes grosses Konzert, sein Leben als Mönch und als Kirchenmusiker.


Victor Kälin: Haben Sie Ärger gekriegt?


Pater Lukas Helg: Sie sprechen mich wohl auf mein Radio-Interview an …?


Genau. Die Sendung «Musik für einen Gast», welche Ende Oktober und Anfang November zweimal auf Schweizer Radio SRF zu hören war. Es war ein bemerkenswert persönliches Gespräch. Darin erwähnten Sie, sich hie und da zu schämen für das, was in der katholischen Kirche passiert – insbesondere, dass man die Frauen nicht einbindet. Gab es Ärger, wie von Ihnen vermutet?


Ich schäme mich wirklich für den Umgang der Kirche mit den Frauen. Wenn ich daran denke, welche Stimmung 1965 unter Papst Johannes XXIII herrschte, wie begeistert ich damals ins Kloster eingetreten bin … Doch zu Ihrer Frage: Nein, Ärger gab es überhaupt nicht, was mich sehr erstaunt. Ich erhalte durchwegs positive Rückmeldungen. Viele danken mir für meine klaren Worte, für meinen Mut und meine Authentizität. Das ist auch das Verdienst von Redaktor Michael Luisier, der mir freien Lauf liess. Ich fühlte mich richtig wohl im Studio.


Es fällt auf, dass Ordensfrauen – wie die Schwestern aus Fahr (EA 82/18) – und Ordensmänner an der Basis die Missstände in der katholischen Kirche offener ansprechen, die höher Chargierten im besten Fall noch diplomatisch verklausulieren oder gar stumm bleiben …


Stimmt. Das ist leider so. Warum, weiss ich auch nicht. In der katholischen Kirche wird viel zu viel zugedeckt. Auch dafür schäme ich mich.


Was ist das für eine Einstellung zur Wahrheit? Wie wuchs Ihre kirchenhierarchische Emanzipation?


Ich hatte Vorbilder im Kloster Einsiedeln, Patres mit einer eigenen, freien Meinung … wie zum Beispiel den vormaligen Propst von St. Gerold Pater Nathanael Wirth oder meinen damaligen Novizenmeister Pater Johannes Evangelist Haymoz. Ich habe Mühe mit einer allzu engen theologischen Weltanschauung, die vor lauter Theorie den Bezug zur Realität verliert.


Sie bezeichnen sich als «liberalen Mönch». Ist das Kloster Einsiedeln per se liberal oder nur so weit, wie es die Äbte zulassen – konkret Georg, Martin und Urban?


Das Kloster ist nicht per se liberal. Wir Mitbrüder sind ein Abbild unserer katholischen Kirche in der Schweiz. Auch wir sind theologisch gespalten … Es gibt unter einem Dach verschiedenste Auffassungen.


Ist das nicht befruchtend?


Wenn man die Themen offen ansprechen würde … Bei uns wird aber zu vieles schubladisiert. Ich kann keine Entwicklung erkennen.


Bekannt ist vor allem Ihre Tätigkeit als Stiftskapellmeister. Ihr Arbeitsgebiet umfasst aber noch viel mehr …


Ab 1975 war ich 32 Jahre lang Musiklehrer an der Stiftsschule, anfänglich unterrichtete ich auch Latein und Religion. Ich war Klavier- und Orgellehrer, Orgelunterricht gebe ich bis heute. Auch wenn ich meinen Posten als Stiftskapellmeister im September in jüngere Hände gelegt habe, bin ich weiterhin Leiter des klösterlichen Männerchores; lange Jahre war ich verantwortlich für die grossen Kirchenkonzerte, die früher noch Welttheater-Konzerte hiessen; 1988 gründete ich den Plausch-Chor, der heute Cum-Anima-Chor heisst. Und 1976 fasste ich meine beiden «Lebensjobs»: Stiftskapellmeister und Musikbibliothekar, was ich heute noch bin.


Und was gefällt Ihnen am besten?


(Lacht …) Das ist schwierig. Da fällt mir eher ein, was ich am wenigsten gern machte: Klavierstunden geben. Ich bin ausgebildeter Organist und Kirchenmusiker, kein Klavierlehrer. Sehr gerne habe ich aber immer mit dem Plauschchor gearbeitet. Plauschchor – der Name war schon richtig, auch wenn er nicht allen gefiel. Als Stiftskapellmeister plagten mich jahrelang dieselben Sorgen: Geht das weiter? Habe ich am Sonntagmorgen meine Sänger und Sängerinnen? Erst mit der Umstellung vom Schülerchor auf den heutigen Erwachsenenchor war ich diese Sorgen los.


Sie fragten sich, ob Sie der letzte Stiftskapellmeister aus der Klostergemeinschaft seien. Die Übergabe an einen weltlichen Leiter auch des Stiftschores ist ein weiteres Zeichen der Veränderungen, welche die Klostergemeinschaft erfasst …


(Studiert …) Ich sehe darin auch die Situation in der Gesamt-Kirche abgebildet. Ich bewundere junge Menschen, die in einen Orden eintreten; doch es sind immer weniger, mindestens, was die Situation in Europa betrifft. Ein Mitbruder sagte mir einmal, dass der liebe Gott wohl sein Bodenpersonal auswechseln will … Und so frage ich mich ernsthaft, ob wir ein Auslaufmodell sind. Doch mir gefällt das Klosterleben ausgezeichnet. Ich schätze die geregelten Tagesabläufe, diesen festen Rhythmus. Und so bin ich guter Hoffnung, dass eines Tages wieder einmal ein Musiker in unser Kloster eintreten wird.


40 Frauen und 16 Männer gehören dem Stiftschor aktuell an. Was bewegt diese, rund 25 Mal pro Jahr am Sonntagmorgen in der Kirche zu singen?


Fragen Sie die Chormitglieder selbst (lacht) … In dieser wunderschönen Kirche zu singen, ist attraktiv. Und das erst noch zusammen mit Mönchen, das macht das Ganze besonders speziell. Auch unsere Probenzeit am Mittwoch von 18.30 bis 19.45 Uhr ist offenbar günstig. Man kann danach noch etwas machen …


… gemeinsam ein Bier trinken …


… auf jeden Fall. Das machen wir regelmässig. Wir sind zudem ein konfessionell offener Chor; wer mitsingen will, muss nicht zwingend katholisch sein. Bei uns singen Reformierte und gar Glaubenslose. Es ist doch so: Musik erreicht mehr als jede Predigt. Sie geht tiefer. Dafür sind die Leute bis in unsere Zeit hinein empfänglich.


Wie schätzen Sie die Zukunft des Stiftschores ein? Wird angesichts der generell stetig schrumpfenden Kirchenchöre der Stiftschor überdauern?


Ich bin fest überzeugt, dass es weitergeht. Mit Lukas Meister ist der Chor ja auch in sehr guten Händen. Es gibt eher keine Mönche mehr, als dass der Stiftschor nicht mehr singt. Festliche Gottesdienste wird es weiterhin geben.


Wenn Sie auf Ihre vielfältigen Tätigkeiten zurückblicken: Was bleibt?


Das dürfte mein Einsatz für die Musikbibliothek sein. Alles ist geordnet, jedes Buch und sämtliche Musikalien sind digitalisiert. Das betrachte ich als mein Werk, das überdauert.


Ihr Vermächtnis sozusagen?


(Wiegt mit dem Kopf hin und her) Schauen Sie, unsere Einsiedler Musikbibliothek ist einmalig. Sie umfasst über 50’000 Titel, wovon die meisten Kompositionen aus der Zeit zwischen 1600 und 1850 stammen. Es sind vor allem kirchenmusikalische Werke, aber es gibt auch Sinfonien, Konzerte, Opern, Kammermusik, einfach fast alles. Eindrücklich sind jene rund 6000 Handschriften vor 1800. Das ist einmalig in der Schweiz. Und der siebtgrösste Bestand weltweit! Herausragend vertreten ist Johann Christian Bach, der jüngste Sohn von Johann Sebastian Bach. Und in unserer Autographen Sammlung finden sich Namen wie Mozart, Salieri, Wagner, Verdi, Mendelssohn, Mayr … Mein Verdienst ist nicht das Sammeln, sondern das Erschliessen dieser Schätze.


Und wenn Sie persönlich zurückblicken?


Ich bin glücklich. Ich bin dankbar, als Kirchenmusiker zu spüren, wie viel Freude man mit Musik weitergeben kann.


Und als Mönch?


Was ich vor 53 Jahren tat, habe ich bis heute nie bereut. Heute hätte ich wohl kaum den Mut, in einen Orden einzutreten.


Was gäbe es dann?


Von 1971 bis 1975 war ich für das Kirchenmusikstudium in Salzburg. Vor der Heimkehr nach Einsiedeln stand ich auf der Kippe … Ich sah die freie Welt, lernte viele wunderbare Studentinnen kennen, sah Karriere und Verdienst als ausgebildeter Kirchenmusiker. Und was machte ich? Ich ging zurück ins Kloster, ohne zu wissen, ob ich mein neu erworbenes Wissen überhaupt anwenden kann. Dass ich 1976 gleich zwei «Lebensjobs» erhielt, war mein grosser Glücksfall. Als Dorfpfarrer hätte ich beruflich nicht überlebt. Ich erinnere mich noch gut daran, als mein gleichaltriger Mitbruder während meiner Salzburger Zeit das Kloster verliess und heiratete. Er erzählte mir, wie schön er es jetzt habe … Das hat mich schon beschäftigt.


Musik ist Ihr Lebensfaden. Was bedeutet Musik für Sie?


Eieiei, was für eine Frage … Da muss ich auf Friedrich Nietzsche zurückgreifen: «Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum!» Musik ist eine Gabe des Himmels. Und ich bin überzeugt, dass es im Himmel ebenfalls Musik gibt. Wie sagte schon der heilige Augustinus: «Wer singt, betet zweimal.»


Einer der Schätze der Musikbibliothek ist die autographe Partitur der «Einsiedler Messe» von Giovanni Simone Mayr. Sie wird am 2. und 9. Dezember in der Klosterkirche aufgeführt. Was hat es damit auf sich?


Wie oft habe ich die Partitur schon in den Händen gehalten! Speziell ist, dass sie für Einsiedeln komponiert wurde. Das war 1826, ein Jahr vor Beethovens Tod. Mayr ist ein Name, der heute fast vergessen ist. Mich interessierte der Mensch: Wer war dieser Giovanni Simone Mayr? Ich besuchte seinen Geburtsort Mendorf bei Ingolstadt, ich war in Bergamo, wo er gelebt und gearbeitet hat und im Dom begraben ist: Links vom Hauptportal ist Mayrs Grab, rechts das seines berühmtesten Schülers, Gaetano Donizetti. Interessant ist, dass ein Teil der Einsiedler Messe von Donizetti komponiert wurde. Ich werde das Gefühl nicht los, dass es damals, 1826, schnell gehen musste. Schliesslich musste die Messe ja auch pünktlich fertig sein, war sie doch ein Auftragswerk des Bruders von Pater Gall Morel. Verbürgt ist, dass die Messe 1826 in Einsiedeln zweimal aufgeführt wurde: An der Primiz von Pater Gall am 28. Mai 1826 sowie an der Engelweihe des gleichen Jahres.


Seither nie mehr?


Möglicherweise wurden Teile daraus aufgeführt, die ganze Messe aber nie mehr. Erst 2014 ging die Partitur in Druck; dadurch wurden moderne Aufführungen möglich. Vor zwei Jahren hörte ich die Einsiedler Messe dann in einem Konzert in Bern. Und da sagte ich mir: Die muss ich auch in Einsiedeln aufführen.


Beteiligt sind der Stiftschor, der Frauenchor, der Männerchor, der verstärkte Orchesterverein sowie vier Solisten. Insgesamt kommen wir auf fast 200 Mitwirkende! Aufgrund der erfolgten Stabübergabe des Kapellmeisters an Lukas Meister wird die «Einsiedler Messe» unverhofft zu Ihrem Abschiedskonzert. Wie gross sind die Emotionen?


Die Vorstellung zweier grosser Abschiedskonzerte ist mir etwas peinlich. Das habe ich im Voraus weder gewusst noch geplant, sondern das hat sich durch den von Abt Urban veranlassten Wechsel nun einmal so ergeben. Ich hoffe einfach, dass es nicht zu triumphal wird. Es geht um Mayrs Messe, um ein grosses Gemeinschaftswerk dreier Einsiedler Chöre und des massiv verstärkten Einsiedler Orchestervereins.


Wie ist die Resonanz?


Nach meinem Radio-Interview gab es Telefonate nach Einsiedeln für Hotelbuchungen. Ja, es wird Leute geben. Die Erwartungen sind hoch. Ich bin nicht traurig, dass es mein letztes grosses Werk ist – das grösste, das ich je gemacht habe. Ich bete, dass ich das alles aushalte. Ich traue mir allerdings zu, dass ich das kann. Dass ich meinen Nachfolger Lukas Meister als Stütze im Rücken habe, gibt mir grosses Vertrauen. Ich freue mich riesig, dass so etwas in Einsiedeln möglich ist. Ich kann mir einen Traum erfüllen, auch wenn ich derzeit vor Angst eher Albträume habe.


Einsielder Anzeiger / Interview: Victor Kälin


 


«Einsiedler Messe» und das «Te Deum»


1826 feierte mit Pater Gall Morel einer der bedeutendsten Einsiedler Mönche seine erste heilige Messe. Zu diesem Festtag bestellte sein Bruder beim damals berühmten Komponisten Giovanni Simone Mayr (1763–1845) eine Primizmesse – die «Einsiedler Messe». Nach 192 Jahren wird sie erstmals wieder als Gesamtwerk aufgeführt: Am 2. und 9. Dezember unter der Gesamtleitung von Pater Lukas Helg (jeweils um 18.30 Uhr in der Klosterkirche). Zusätzlich ist auch Wolfgang Amadeus Mozarts «Te Deum» (KV 141) zu hören. Aufführende sind Angela Studer (Sopran), Lisa Weiss (Alt), Lukas Albrecht (Tenor) und Jonathan Prelicz (Bass); Frauen- und Männerchor Einsiedeln, Stiftschor und der verstärkte Orchsterverein Einsiedeln. – Freier Eintritt – Kollekte.

Autor

Einsiedler Anzeiger

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Kategorie

  • Musik

Publiziert am

20.11.2018

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