Thomas Hürlimann mit Blick auf den Sihlsee, 2018. Bild Christoph Hürlimann
Thomas Hürlimann mit Blick auf den Sihlsee, 2018. Bild Christoph Hürlimann

Literatur

«Die Wirklichkeit wahrnehmen»

Interview mit Schriftsteller Thomas Hürlimann über Katzen, das Schreiben, Einsiedeln – und den Tod.

Im Dezember wird Thomas Hürlimann 70. Schon jetzt hat der Schriftsteller, der viele Jahre in Einsiedeln lebte, uns Lesern ein Geschenk gemacht: Sein neues Buch «Abendspaziergang mit dem Kater» ist jüngst erschienen. Darin lässt Hürlimann auch viele Stationen seines Lebens in Einsiedeln Revue passieren.

Wolfgang Holz: Ihr neuestes Buch heisst «Abendspaziergang mit dem Kater». Katzen sind häufige Gefährten in Ihren Texten – angefangen von «Der grosse Kater » bis zur Katze in Ihrem Roman «Heimkehr». Warum sind Ihnen Katzen so ans Herz gewachsen?


Thomas Hürlimann: Das kam durch einen Kater, der meiner damaligen Frau, Kathrin Brenk, und mir zugelaufen ist. Arbeiter hatten ihn bei einer Baustelle gefüttert. Als das Haus fertig war, zogen sie ab, und der Kater suchte sich sein nächstes Heim. Wir wohnten damals im Parterre, in Ebmatingen, einer Satellitenstadt am Rand von Zürich. Der Kater kletterte in einer Novembernacht durch ein offenes Fenster in unsere Wohnung. Haustiere waren nicht erlaubt. Wir flogen raus, und so gelangten wir, dank des Katers, ins Willerzell.

Was ist das eigentlich für ein Werk, das Sie dem Leser nun präsentieren? Eine Anthologie Ihrer Lieblingstexte und jüngster Essays? Oder könnte man sagen, es ist eine Art Lebensbuch?


Ja, ich glaube, es ist ein Lebensbuch. Die meisten Themen, die Thomas Hürlimann, Schriftsteller mich im Lauf der Zeit beschäftigt haben, tauchen auf. Ein Teil der Faszination Ihres neuen Buchs verkörpert die persönliche Nähe, die Sie zulassen. Die Sie zum Leser aufbauen, weil Sie ganz persönliche Dinge erzählen. Wie schwierig oder wie leicht ist es als Autor, sich ohne fiktionales Mimikry einfach so vor den Leser zu stellen? Beim Schreiben denke ich nie daran, dass der Text von jemandem gelesen werden könnte – da bin ich damit beschäftigt, den Sätzen eine gewisse Eleganz zu geben. Das ist harte Arbeit. Erst hinterher frage ich mich dann, ob der Text das Zeug dazu hat, über das Persönliche hinaus etwas auszusagen. Ist das der Fall, verschwindet das Intime in einer allgemeinen, für die Lesenden nachvollziehbaren Aussage.

Ganz persönlich und höchst amüsant ist der Text «Meine Reise ins Innere» zu lesen, in dem Sie Ihre Spitalerlebnisse während Ihrer jüngsten Krankheit erzählen. Wie ist es möglich, dass Sie sich noch an so viele Details so genau erinnern, waren Sie doch von Ihrer Krankheit sehr mitgenommen?


Moment, der Text ist als Spitalführer konzipiert, wie ein Restaurant- Führer. Und wie ein Testesser, etwa des Guide Michelin, verteile ich an die verschiedenen Spitäler meine Sterne. Drei, wenn alles top war, oder keinen, wenn ich mich als Patient nicht wohl gefühlt habe. In diesem Verfahren steckt eine gewisse Distanzierung vom Erlebten. Der Text geht über das Persönliche hinaus, viele andere Patienten haben sich darin wiedergefunden. Und was die Details anbelangt: Das ist mein Beruf – die Wirklichkeit wahrzunehmen. In schlimmen Momenten hilft mir das immer. Ich halte mich aufrecht, indem ich mir einpräge, was um mich herum und mit mir geschieht.

Gerade in Ihrer «Spitalodyssee», in der es um Leben und Tod geht, steckt auch eine ordentliche Portion Galgenhumor. Haben Sie diesen tatsächlich auch in Echtzeit erlebt – oder ist dieser erst in Ihr Schreiben über diese existenzielle Situation eingeflossen, quasi als Ausdruck der Erleichterung über Ihre Wiederauferstehung?


Nein, ich habe ein Talent für Pannen – und meistens muss ich schon im Moment, da sie sich ereignen, darüber lachen. Als ich noch im Willerzell lebte, legte ich mir ein Moped zu. Ich setzte den neuen Helm auf und fuhr los. Dann wollte ich den Helm ausziehen und hatte keine Ahnung, wie man das Schloss öffnet. Also bin ich in Willerzell ins Gasthaus gegangen. Der Stammtisch war gut besetzt – es war zur Zeit des Feierabends. Ich habe zur Serviertochter gesagt: Ich kann den Töfflihelm nicht ausziehen. Kannst du mir helfen? Da riefen sie am Stammtisch: Nicht so schnell. Er soll sich vorher eine Weile zu uns setzen, an den Stammtisch. Also setzte ich mich dazu, im Helm, und wusste natürlich: Du bist eine Lachnummer.

Wie wichtig ist aus Ihrer Sicht Humor als lebenserhaltende Massnahme?



Man muss das trainieren. Wer nur alle zehn Jahre in eine schwierige Situation gerät, dem geht die Fähigkeit zum Humor vermutlich ab. Ich habe den Vorteil, dass mir häufig etwas Dummes passiert. Als sie in der Einsiedler Post am Schalter die automatische Scheibe eingeführt hatten, wollte ich mal der Pöstlerin, die sich mit meinem Paket entfernte, etwas zurufen, streckte den Kopf unter der Scheibe durch, und jetzt können Sie sich denken, was geschah. Die Scheibe hat wie eine Guillotine funktioniert. Ich konnte den Kopf nicht mehr zurückziehen. Die Scheibe hat mich festgehalten. Das fanden die anwesenden Postkunden saumässig lustig.

Eine andere sehr persönliche Geschichte in Ihrem Buch ist der Nachruf auf Ihren verstorbenen Bruder Matthias. Denken Sie noch oft an ihn?


Ja, gerade im Spital dachte ich ständig an ihn. Er hatte etwas ähnliches erlitten wie ich, allerdings als junger Mann. Er ist mit zwanzig gestorben. Wenn es mir sehr schlecht ging, habe ich ihn angesprochen, wie in einem Gebet: Matthias, hilf mir. Auch meine verstorbene Mutter habe ich oft um Hilfe gebeten. Meine Toten waren bei mir. Sie sind eigentlich immer bei mir. Ich lebe mit ihnen.

Auch Einsiedeln ist ein Topos, der im neuen Buch häufig vorkommt: Ihr schrecklicher Autounfall, Ihre Zeit als Atheisten- Club-Gründer in der Klosterschule, Ihre Spaziergänge in Willerzell, der Druesberg. Was hat Einsiedeln Ihnen unterm Strich gegeben?


In schönster Erinnerung habe ich die Stücke mit dem Chärnehus, vor allem «De Franzos im Ybrig», in der Regie von Barbara Schlumpf. Auch die beiden Welttheater-Aufführungen, in den Jahren 2000 und 2007, die Volker Hesse inszeniert hat, gehören zu meinen unvergesslichen Einsiedler Erlebnissen. Und dann sind da viele wunderbare Begegnungen, etwa die Freundschaft mit Anja und Werner Öchslin, oder mit Rosmarie Öchslin. Ihnen bin ich heute noch verbunden.

Stilistisch gesehen ist das neue Buch von Ihnen auch so faszinierend, weil es Ihre literarische Meisterschaft dokumentiert – sprich: das virtuose Schreiben von Kurzgeschichten und Novellen sowie Ihre pointierte und äusserst unterhaltsame essayistische Ader. Wie sehen Sie das?


Es freut mich, wenn Sie das so sehen. Tatsächlich versuche ich, Schweres leicht zu erzählen. Goethe hat gesagt: Das Leichte ist am schwersten zu machen. Zum Beispiel auf der Bühne. Es ist nicht leicht, eine Pointe zu setzen, einen Lacher zu holen. Das erfordert gutes Handwerk.

Ihr neues Werk ist drei Monate vor Ihrem bevorstehenden 70. Geburtstag erschienen. Ist das schon Ihr Geburtstagsgeschenk an uns Leser oder kommt da noch was?


Nein, das wars. Im Übrigen bin ich nicht sehr auf meinen Geburtstag fixiert. Er ist drei Tage vor Weihnachten – das ist ja auch wieder eine Panne. Als ich Kind war, hiess es: Deine Geschenke bekommst du dann an Weihnachten. Einmal bekam ich aber doch etwas: einen Papierkorb. Ich zeigte ihn meinem damaligen Freund Marcel Bertschi, der später Farmer in Afrika wurde. Marcel meinte: Wirf den blöden Papierkorb aus dem Fenster.Wir traten auf den Balkon unseres Mehrfamilienhauses hinaus, und der Papierkorb sauste in die Tiefe. Marcel sah ich vor einigen Jahren wieder.

Und wie kam dieses Treffen zustande?


Er tauchte bei einer Lesung auf, im Tessin, und lud mich ein, ihn in Afrika zu besuchen, wo er mitten in einer Savanne mit einigen frei herumlaufenden Löwen ein Farmhaus bewohnte. Ich war skeptisch. Da meinte Marcel: Du schickst mir vorher ein verschwitztes Hemd, das gebe ich meinen Löwen zu riechen, dann kennen sie dich schon, wenn du kommst, und werden dir nichts tun. Ich habe zugesagt, trotz meiner Pannentendenz. Marcel und ich haben uns leider nicht mehr gesehen. Der Zufall wollte es, dass wir zur selben Zeit im Unispital Zürich lagen, ohne voneinander zu wissen. Marcel hat die Operation nicht überlebt.

Letzte Frage: Zurzeit wird die Welt von einer Vokabel beherrscht: Corona. Wie gehen Sie damit um – und welches poetisches Potenzial hat Corona?


Ich denke, dass das Thema hinter der Corona-Geschichte wichtig ist: der Tod. Wir haben ihn vergessen. Corona zeigt unserer Gesellschaft, dass wir sterblich sind.

Einsiedler Anzeiger / Wolfgang Holz

Autor

Einsiedler Anzeiger

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Kategorie

  • Literatur

Publiziert am

16.10.2020

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