Dies & Das
Literatur
Die Skulptur ist wissensdurstig
Interaktive Lesung mit Anita Chiani und Viktoria Mafalda. Mitten in der Woche ein Kulturereignis, ein Gespräch mit einer unverfrorenen Skulptur und einer Autorin, die das interessierte Publikum mit provokativen Fragen miteinbezieht? Das war eine erfrischend neue Form von Kulturvermittlung.
Der imaginäre Schauplatz war die Piazza vor dem Dom in Florenz. Viktoria Mafalda steht dort seit einer gefühlten Ewigkeit, aus Kalkstein geschaffen, verwittert-gealtert. Und sie sagt sich, dass sie es mutig wagen kann, genau hinzublicken auf alle die Menschen, die hier vorbeihasten, vorbeischlendern. Man sieht die belebte Szenerie vor sich. Und schon kommt die Aufforderung von Anita Chiani an die Anwesenden: «Kennen wir sie, die Viktoria?» Ja, die Figur ist wissensdurstig, will, dass die Besucher sich mit Viktoria austauschen. Hand aufs Herz: Etwas bizarr ist die Vorstellung allemal, mit einer Skulptur zu sprechen! Nun, niemand aus dem Publikum hat so was schon gemacht (!) – nun, berührt hat man eine schon. Immerhin.
Sarkasmus als Ventil
Die Skulptur nutzt den Sarkasmus als Ventil, wenn sie beobachtet, und das werden Geschichten, Szenen. Man bedenke aber immer, dass das, was man im Moment sieht, eine Vorgeschichte hat. Das Vordergründige im erdachten Hintergründigen beansprucht die ganze Fantasie. Kontroverse Bilder werden erschaffen, wenn etwa das Kind als Fuchs in die Schule geht. Und jetzt wieder die Frage ans Publikum, wie es denn in ihrem kindlichen Erleben war? Oder es wird der Samstagmorgen in der Stadt mit Demonstration und Gewalt, blutiger Gewalt, heraufbeschworen. Das steigert sich bis zum Exzess, der Piazzaplatz ist blutrot. Das ruft nach der Frage, warum der Mensch immer Sündenböcke braucht? Nun, einfach gesagt bewirken Feindbilder, dass man sich zusammentut, Stärke aufbaut und zum Kampfe findet. Die unsichtbaren, fiktiven Einhörner liegen leblos auf der Piazza. Nun verschwimmen Kunst und Wirklichkeit immer mehr. Was ist Vollkommenheit – in der Kunst, im Leben? Ein grosses Weltbild, bezeichnend aus Menschen in aller Vielfalt, tut sich auf. Die beobachtende Figur auf der Piazza ist doch aus Stein – oder nicht? Wird dieser Stein allmählich weich, nimmt Fleisch an, wird gar menschlich? Man denkt unwillkürlich, dass musikalische Klänge Steine erweichen können. Und jetzt darf die Skulptur allen alles sagen. Man erwacht, kehrt in die Wirklichkeit Einsiedelns ein. Ein hintergründiger Abend fand sein würdiges Ende.
Einsiedler Anzeiger / Paul Jud
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