«Stets aufs Neue stellt sich die Frage»: Urs Wisel Ochsner zur Tradition der Welttheaterspiele in Einsiedeln. Foto: zvg
«Stets aufs Neue stellt sich die Frage»: Urs Wisel Ochsner zur Tradition der Welttheaterspiele in Einsiedeln. Foto: zvg
Urs Wisel Ochsner zeichnet in seinem Buch ein bewegtes Stück Einsiedler Theatergeschichte nach. Foto: Victor Kälin
Urs Wisel Ochsner zeichnet in seinem Buch ein bewegtes Stück Einsiedler Theatergeschichte nach. Foto: Victor Kälin

Bühne

Literatur

«Als die gottähnlich angelegte Figur des Schöpfers gestrichen wurde …»

Für Urs Wisel Ochsner erfolgte die eigentliche Zäsur der Welttheater-Tradition nicht etwa mit der Inszenierung 2000, sondern erst 2007. Er hat darüber ein Buch geschrieben.

Rechtzeitig auf die ehemals geplante Inszenierung 2020 ist Urs Wisel Ochsners Buch «Zäsur in einer Tradition – Dokumentation des Welttheaters 2007» im Chronos Verlag erschienen. Dem Buch liegt Ochsners Dissertation «Das Einsiedler Welttheater 2007. Die Zäsur in einer Tradition» zugrunde. Diese wurde von der Philosophisch- historischen Fakultät der Universität Bern im Herbstsemester 2016 auf Antrag von Prof. Dr. Andreas Kotte und von Prof. Dr. Beate Hochholdinger- Reiterer angenommen. Das Interview mit dem in Zittau (Deutschland) lebenden Schauspieldramaturgen fand schriftlich statt.

Victor Kälin: Über wie viele Jahre erstreckte sich die Genese des Buches – von der Idee bis zum Druck?


Urs Wisel Ochsner: Im Nachgang an die Welttheaterspielzeit 2007 sah ich hinter den Schaufenstern der Buchhandlung Benziger das mir bekannte Buch «Theater der Nähe» ausgestellt und erwähnte dies im Zusammenhang mit dem Bombenengel- und dem Flugzeug-Sujet gegenüber Prof. Dr. Andreas Kotte, Direktor des Instituts für Theaterwissenschaft an der Universität Bern. Daraus entstand 2009 die Idee, über die Inszenierung 2007 eine Lizentiatsarbeit zu verfassen. Da diese den üblichen Rahmen punkto Materialen und Quellen sprengte, baute ich dieses Thema zu einer Dissertation aus, die nun in Buchform vorliegt.

Warum erfolgt die Publikation in diesem Jahr?


Wegen der Spielzeit 2020? 2020 hätte die neue Welttheater-Produktion stattfinden sollen. Deshalb schien es angezeigt, das Buch auf diesen Zeitpunkt hin zu publizieren. Nun wollen wir hoffen, dass die Tradition 2021 ihre Fortsetzung finden kann und sie 2024 ihr 100-jähriges Bestehen feiern wird.

Warum stellen Sie die Inszenierung 2007 in den Fokus Ihrer Arbeit? Der entscheidende Schritt zur konzeptionellen Neuausrichtung erfolgte meines Erachtens mit der Inszenierung 2000.


Anfangs der 90er-Jahre unterhielt sich Thomas Hürlimann mit Hanspeter (James) Kälin über die Gefahr des Abbruchs der Welttheater-Tradition. Einzig eine komplette Veränderung könne diese am Leben erhalten, meinte Hürlimann, der sich daraufhin jahrelang mit dieser Tradition auseinandersetzte und eine Neufassung schrieb. Demnach kann die pionierhafte Neukonzeption 2000 als Wegbereiter für kommende Spielzeiten gesehen werden, doch der eigentliche Einschnitt – die Zäsur – entstand 2007, als die ursprünglich gottähnlich angelegte Figur des Autors oder Schöpfers gestrichen wurde und Transzendenz allein in einem Endwind durchschimmerte. Unter der Regie-Handschrift Hesses wurde mit der calderonschen Figurenwelt gebrochen und auch die Figur des Autors, der 2000 noch auf Calderón verwies, obsolet.

Worin liegt für Sie die Faszination des Welttheaters, um sich damit jahrelang zu beschäftigen?


Das Welttheater in Einsiedeln widerspiegelt einen enormen kulturellen Reichtum, der über die Einsiedler Vereine und die lokale Fasnacht hinaus für Theatralität bürgt. Generationen «geben» das Welttheater an ihre Nachkommen weiter. Ich fand es vor allem auch spannend, mich mit einem Thema zu beschäftigen, bei dem ein professionelles Künstler-Duo sich mit Hundertschaften von Laien auf dem einzigartigen Klosterplatz auseinandersetzt. Auf welcher Bühne findet sich sonst eine solche Konstellation?

Wie hat Ihnen das von Ihnen analysierte Welttheater 2007 denn gefallen?


Ästhetisch sagte mir Hesses Inszenierung 2007 mit ihrer genialen Bildästhetik zu: Die Wechselwirkung der Hauptfiguren – verstärkt durch Alter Egos – zu den Massen erschien mir sehr gelungen. Das Anfangsbild mit dem roten Tuch war stilbildend. Ausserdem schien es mir angebracht, den Prozess zu analysieren, bei dem die frühere Tradition hinterfragt und deren moralischer Absolutheitsanspruch seitens einer pluralistischen, säkularisierten Gesellschaft abgelehnt wird. Es gelang der Inszenierung mit ihren Schlüsselakteuren – dank den medialen Begleiterscheinungen – eine kontroverse Diskussion anzustossen, die über die Bühne des Klosterplatzes hinauswies und schweizweit zu angeregter Reflexion führte. In der Spielzeit 2007 zeigt sich beispielhaft, dass Theater und dessen Umfeld Eigendynamik entfalten und der geschriebene Theatertext bloss ein wichtiger, aber nicht der einzige Faktor für einen produktiven Dialog in einem gesellschaftlichen Gefüge ist.

Welche Erkenntnis zur Zukunft bleibt Ihnen nach Ihrer jahrelangen Forschung und Recherche?


Zwar ist der Stoff des Welttheaters in Einsiedeln zeitlos; doch muss er in der jeweiligen Zeit (durch ein künstlerisches Tandem) stets an den Erwartungshorizont  der Zuschauer herangeführt werden. Es ist kein Selbstläufer, eine Tradition weiterzuführen; hierfür braucht es eine Beteiligung von Hundertschaften Freiwilliger sowie eine professionelle Planung und Vorbereitung hinter den Kulissen. Das ist in einer Ära, in der niemand Zeit zu haben meint, keine Selbstverständlichkeit. Stets aufs Neue stellt sich die Frage, welchen Konsens die Welttheatergesellschaft Einsiedeln und das Kloster Einsiedeln hierbei finden. In welche Richtung schlägt das Pendel aus: in eine historistische oder moderne antihistoristische Richtung?

Wer ist der Autor Urs Wisel Ochsner


Jahrgang: 1983
Wohnort: Zittau (Sachsen/D)
Beruf: Schauspieldramaturg
Eltern: Alois Ochsner und Susi Ochsner-Seiler Enkel von Alois und Lina Ochsner-Bettschart. Seine Grossmutter Lina Ochsner leitete mit ihrem Bruder Josef Bettschart jahrelang das Café Konditorei Merkur am Sternenplatz. Sein Grossvater war Verwalter der Kantonalbank Schwyz gleich gegenüber.
Beziehung zum Welttheater: selbst nie Mitwirkender, aber ab 2000 jede Spielzeit besucht

Einsiedler Anzeiger / Victor Kälin

Autor

Einsiedler Anzeiger

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Kategorie

  • Bühne
  • Literatur

Publiziert am

18.08.2020

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