Literatur
«Das Tao der Schweiz»: Lesung und Gespräch mit Harro von Senger
Was haben wir Schweizer mit den Chinesen gemeinsam? Ziemlich viel, hat Harro von Senger herausgefunden. Mit seinem neusten Buch «Das Tao der Schweiz – ein sino-helvetisches Gedankenmosaik» spürt er diesen Gemeinsamkeiten mit Beharrlichkeit nach.
ggm. «Mein Wissen ist im Vergleich zu dem, was man wissen könnte, immer noch absolut minimal», sagte Prof. Dr. Dr. Harro von Senger im Lauf des Donnerstagabends vor dem sehr zahlreich erschienenen Publikum im Museum Fram. Die Lacher waren ihm sicher, dabei hatte er sich doch nur in zutiefst schweizerisch- chinesischer Manier ausgedrückt: bescheiden. Was der bekannte Sinologe aus Willerzell den allermeisten Anwesenden mit Sicherheit voraus hat, ist die Kenntnis der chinesischen Sprache. Besonnen übersetzte er die Begrüssungssätze von Moderator Walter Kälin simultan ins Chinesische, ein sinnlicher Start in einen äusserst bereichernden Abend. Es dauert mitunter sehr lange, bis man eine fremde Kultur begreift. Harro von Senger war neun Jahre alt, als ihm in einem Ferienhäuschen am Sihlsee zufällig ein Büchlein über chinesische Konversationsgrammatik in die Hände fiel. Es war der Beginn einer lebenslangen Leidenschaft. Mittlerweile ist der ausgewiesene Spezialist der chinesischen Kultur 74 Jahre alt – und immer noch unermüdlich bestrebt, die Gemeinsamkeiten seines Heimatlandes und dem Land der aufgehenden Sonne zu erforschen und kundzutun.
Das Tao-Te-King ist abstrakt
Das bis heute grundlegendste Werk über humanistische chinesische Staatslehre und Philosophie ist das Tao-Te-King. Das über zweitausend Jahre alte literarische Werk beschreibt in nüchterner, abstrakter Form, wie die Menschheit friedlich existieren könnte. Das Tao-Te-King ist frei von Geschichten über Herrscher und Schlachtengetümmel und deshalb zeitlos. Harro von Senger erkannte nach langen Jahren des Studierens und Nachdenkens dessen universellen Wert und kam zum Schluss, dass der Taoismus wunderbar taugt, die Geschichte der Schweiz zu erklären, losgelöst von Rütlischwur und Morgarten.
Man übe sich in Bescheidenheit
«Das Tao der Schweiz» beinhaltet neben den Auslegungen des Autors zur Schweizer Geschichte auch Zitate aus dem Tao-Te-King. Unter den vielen chinesischen Weisheiten taucht die Weisung auf, «das ‹Zu Sehr›, das ‹Zu Viel› und das ‹Zu Gross› zu meiden», sich also in Bescheidenheit zu üben. Wenn es etwas gibt, was Chinesen und Schweizer im Wesen verbinde, so sei es diese Eigenschaft, sei sie Tugend oder Hemmnis. Ebenso in beiden Nationen verbreitet seien der Hang zum Mittelmass und das Geschick, die Grenzen zwischen Weisheit und List verschwimmen zu lassen. Von Senger kritisiert aber auch die Konsumwut und andere Verhaltensweisen der Schweizer, die überhaupt nicht taoistisch seien. Umgekehrt schätzt er die hiesige Weltoffenheit, die er bereits als Schüler in der Stiftsschule erleben konnte.
Seit 170 Jahren kein Krieg
Friedfertigkeit ist ein weiterer Grundsatz des Tao-Te-King – und sie sei es auch in der Schweiz. Friedfertigkeit, Neutralität, glückliche Umstände und eine geschickte Politik hätten die Schweiz seit 1848 vor Waffengängen gegen ausländische Armeen bewahrt. Ganz taoistisch gesagt: Die beste Armee der Welt ist die, die nie zum Einsatz kommt. So ergibt sich ein dickes Bündel an schweizerischen Eigenschaften, die in China auch vorhanden sind. Von Senger sagte: «Die Schweizer benahmen sich seit zwei-, dreihundert Jahren als Spontan-Taoisten, ohne etwas vom Tao-Te-King zu wissen.»
Anregendes Gespräch
Dem angeregten Gespräch zwischen Harro von Senger und Walter Kälin zuzuhören, war anregend und unterhaltend zugleich. Moderator Kälin, wie immer hervorragend vorbereitet, führte den Gelehrten von Senger und sein Laienpublikum am roten Faden klug und sehr persönlich durch die anderthalbstündige Reise durch die chinesische Gedankenwelt. Für die Zwischenstationen auf dieser Reise sorgte Jan Zierold, ehemaliger TV-Nachrichtensprecher und Schauspieler. Er las mehrfach Passagen aus dem Buch «Das Tao der Schweiz», vermochte mit seiner professionell eingängigen und achtsamen Sprechweise auch schwierige Gedankenketten zu vermitteln und machte den Zuhörenden Lust, selber zum Buch zu greifen.
Einsiedler Anzeiger / ggm
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