Schriftsteller Thomas Hürlimann (links) im Dialog mit Fram-Club-Präsident Walter Kälin. Foto: Wolfgang Holz
Schriftsteller Thomas Hürlimann (links) im Dialog mit Fram-Club-Präsident Walter Kälin. Foto: Wolfgang Holz

Literatur

«Lebenslang ein Suchender»

Der Fram-Club gedachte vor vollem Haus mit einer Lesung und einem Gespräch dem 200. Geburtstag von Gottfried Keller.

Es war ein literarisches Fest – das die zahlreichen Besucher in Einsiedeln im Museum Fram am Vorabend des 200. Geburtstags des schweizerischen Nationaldichters erlebten. zl. Schauspieler Hanspeter Müller-Drossaart brannte bei der Lesung der Novelle «Dämmerschoppen» von Thomas Hürlimann ein Wortfeuerwerk ab, das immer wieder Lachsalven im Publikum zündete. Nach seinem Vortrag diskutierten der früher in Einsiedeln lebende Schriftsteller Thomas Hürlimann und Fram-Club-Präsident Walter Kälin über Keller und Literatur.


«Meine lieben Fensterlein ...»


Wobei Walter Kälin zunächst selbst den zahlreich erschienenen Besuchern am literarischen Memorial mit seinem auswendigen Vortrag des berühmten Keller-Gedichts «Abendlied » einen Vorgeschmack auf die romantisch inspirierte und doch gleichzeitig sehr sperrige Poetik des Schweizer Dichter-Giganten gab. Nach dem Motto: «Augen, meine lieben Fensterlein/Gebt mir schon so lange holden Schein/Lasset freundlich Bild um Bild herein: Einmal werdet ihr verdunkelt sein! ...» Ganz und gar nicht sperrig, sondern mit brillianter Stimmgewalt und prononciertem Humor bereitete dann Hanspeter Müller-Drossaart bei seiner Lesung von Thomas Hürlimanns «Dämmerschoppen » seinen geneigten Zuhörern grösstes Vergnügen.


Burlesk-süffisant


In dieser 1991 verfassten Novelle, die leider derzeit im Buchhandel vergriffen ist, schildert Thomas Hürlimann mit gekonnt spitzer Feder, mal burlesk-süffisant, mal romantisch einfühlsam, wie der alte Gottfried Keller da auf der Terrasse des Grand-Hozels «Sonnenberg» über dem Vierwaldstättersee bei einem Dämmerschoppen sitzt. Unter falschem Namen – mit Heinrich Lee, dem Namen des «grünen Heinrich» – hat der Nationaldichter in dem Hotel eingecheckt, um der Schar der Geburtagsgratulanten ein Schnippchen zu schlagen und einer lästigen Feier zu entkommen. Als jedoch auf einmal die Höhenfeuer zu lodern beginnen, will er von einem hochnäsigen Oberkellner wissen, was das Land denn zu feiern habe. Den siebzigsten Geburtstag eines abgetakelten Dichters, antwortet dieser schnippisch und meint: «... mit diesem Aufwand an Holz, Feuer und Geläute werde ein gewisser Keller, Gottfried, Dichter aus Zürich, zum Siebzigsten geehrt und gefeiert – reichlich übertrieben, wie er, der Herr Wendelin, finde.» Sagts und zieht dem Gumpoldskirchner «suufenden» Knurrhahn und Brummli in seinem Korbstuhl, sprich: Keller inkognito, gleich noch eins über: Indem er dessen besagtes «Abendlied» als «lyrisches Geflitter von gestern» verunglimpft.


Literarischer Slapstick


Diese Mésalliance aus respektlosem Kellner, der den Unbekannten von der Terrasse haben will, um endlich die Feier für den echten Keller steigen lassen zu können, und dem depressiven Dichter entpuppt sich zu einer tragikomischen Slapstick-Comedy. Am Ende erkennt der Kellner den Keller – und beide verschmelzen zu einem grotesken Feierpaar. Hand in Hand fliegen sie wie in einem imaginären Raumschiff von der Terrasse in die Nacht hinaus: «Keller lachte, und mit der freien Hand winkte er der Terrasse (...) lange nach. Dort unten sangen sie sein Abendlied, und sie sangen es mit Inbrunst und Andacht.»


Dramatischer Drive


Hanspeter Müller-Drossaart verlieh Hürlimanns Novelle einen derart dramatischen Drive, dass die Geschichte so manchem Zuhörer geradezu plastisch vor Augen trat. Nach dem Motto: «was die Wimper hält» – um in Kellers «Abendlied- Kosmos» zu verharren. Durch Beschleunigen und Verzögerungen im Leseduktus, durch witzige Parodien – «derrr englische Grrraf hat an derrr Barrr zu tun» – und nicht zuletzt durch seine messerscharfe und spitzzüngige Diktion vermochte Müller-Drossaart das Publikum bestens zu unterhalten. Ernster und analytischer wurde es dann, als Fram-Club-Präsident Walter Kälin mit seinem früheren Stiftsschulkollegen Thomas Hürlimann Kellers Literatur unter die Lupe nahm. Wobei wiederum zunächst das «Abendlied» zur Debatte stand. Hürlimann nahm Kellers Gedicht gegenüber Kälins Kritik, es weise schiefe Bilder auf, in Schutz: «Das gehört zum Geheimnis des Gedichts – man muss es einfach mehrmals lesen, um es zu verstehen », so Hürlimann. Der 69-jährige Schriftsteller, der gerade ein Lesebuch über Keller herausgegeben hat, gab Kälin dann aber recht, wenn es um den allgemeinen Gemütszustand von Keller geht. «Ja, er war sehr oft depressiv und hat über Wochen und Monate nichts zustande gebracht.» Man würde heute in seinem Fall wohl von Bipolarität sprechen – jenem Gegensatz von Depression und einem Aufstieg ins Manische. «Seine besten Werke hat er sehr rasch geschrieben. » Gleichzeitig machte Hürlimann klar, dass Schriftsteller eben gute und schlechte Tage hätten. Einzelgänger seien. «Und wenn der Himmel immer blau ist, ist das auch kein Geschenk mehr.» Worauf Kälin Kellers eigene Worte zitierte: «Je mieser das Leben, je besser die Worte.»


Der «doppelte Keller»


Hürlimann erklärte die Widersprüchlichkeit in Kellers Werk, indem er das Bild des «doppelten Keller» nachzeichnete, das er jüngst in einem Essay in der «Weltwoche» entworfen hatte – das Bild vom einerseits romantischen, metaphysisch inspirierten Dichter. Und andererseits vom antireligös desillusionierten, realistischen Autor. «Mich verbindet mit Keller vor allem die Tatsache, dass er «lebenslang ein Suchender nach Transzendenz gewesen ist.» Dass in seinen besten Werken immer solche wichtigen Lebensfragen unbeantwortet geblieben seien, so Hürlimann. Für Keller, auf den er eigentlich erst in Ostberlin in der Karl-Marx-Buchhandlung aufmerksam geworden sei, brauche es den zweifellos «geübten Leser».


Kein Preis für Kafka


Keller ist und bleibt also ein nicht leicht zugänglicher Dichter. Und Hürlimann ist unbestritten ein profunder Keller-Kenner. Er erhält deshalb für viele nicht überraschend im September den Gottfried-Keller- Preis für 25’000 Franken verliehen. Walter Kälin wollte wissen, wie Hürlimann damit umgehe, wenn Lukas Bärfuss, Einsiedler Welttheater- Autor 2020, den Büchner-Preis und damit das Doppelte bekomme. «Literarische Preise sind eine zwiespältige Angelegenheit», betont Hürlimann – der selbst schon 25 Preise einheimste. Weil sie Abhängigkeiten erzeugen könnten. Ein literarisches Schwergewicht wie Franz Kafka sei nie ausgezeichnet worden. Genau so wenig wie Robert Walser. «Wenn man als Schriftsteller von seinen Werken überzeugt ist, macht es einem nichts aus, wenn andere Preise bekommen.» Ausserdem könne man sich für 25’000 Franken ja heutzutage kaum mehr ein neues Auto kaufen.


«Dann bin ich sehr katholisch»


Immaterieller und spiritueller wurde der Dialog zwischen Kälin und Hürlimann schliesslich, als letzterer bekannte, dass er jüngst katholischer geworden sei. Der Atheistenklub, dem er zu Einsiedler Zeiten angehörte, sei «pubertäre» Vergangenheit. «Wenn es darum geht, Position zu beziehen gegen den generellen Trend der Totalopposition zur katholischen Kirche – dann bin ich sehr katholisch», sagte Hürlimann. Die ständige Fokussierung auf Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche würde das grosse Ganze, das Mysterium und Metaphysische, in Vergessenheit geraten lassen. Gleichzeitig verurteile er natürlich auch solche Missbrauchsfälle. Indes: Für Keller endete mit dem Tod der Glaube an die Metaphysik. Hürlimann: «Der Staatsschreiber war sehr modern, weil er einer der ersten war, der sich Feuer bestatten liess. Wohl in der Überzeugung, dass das was kommt, das Nichts ist.»

Autor

Einsiedler Anzeiger

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Kategorie

  • Literatur

Publiziert am

23.07.2019

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