Noch ein neues Buch vor dem Büchner-Preis: Lukas Bärfuss. Bild zvg
Noch ein neues Buch vor dem Büchner-Preis: Lukas Bärfuss. Bild zvg

Literatur

Wenn das Gedächtnis zum Tyrannen wird

2020 bestreitet er das Einsiedler Welttheater: der wohl derzeit bekannteste Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss. Nun hat der neue Büchner-Preisträger seinen ersten Erzählband «Malinois» herausgegeben. Es ist eine teils faszinierende, aber nicht immer leichte Lektüre.

«Malinois» heisst der Band mit 13 Erzählungen des 47-jährigen Autors, der in den letzten Jahren mit seinen Romanen und nicht zuletzt mit seinen schweizkritischen Essays für viel Aufsehen gesorgt hat. «Amour fou» Malinois ist eigentlich die Bezeichnung für eine belgische Schäferhundrasse. Bei Bärfuss heisst auch eine seiner Erzählungen so – in der am Ende ein angefahrener Schäferhund verblutet, während sich gleichzeitig ein ungewöhnliches Paar, ein desillusionierter Altmöbelsammler und eine Frau mit einem aus Sicht der Dorfbewohner deformierten Gesicht, einer plötzlichen, leidenschaftlichen «Amour fou» hingeben. Der neue Ortsvorsitzende der Partei, der mit besagter Frau zusammenlebt und dessen Hund schlussendlich stirbt, findet eine groteske Szenerie vor: «... der röchelnde Malinois, seine selig lächelnde Frau, die in einem von Sperma und Vaginalsekret fleckigen Kleiderhaufen sitzt, oder jener Kerl mit der Luger in der Hand».


Vorstellungskraft des Autors


Was wie eine wirre, wilde Geschichte daherkommt, ist auf einer zweiten Ebene eine höchst dichte, reflektierte poetische Abhandlung über die Frage, wie Geschichten entstehen. Wie die Vorstellungskraft eines Menschen – des Autors – ein Geflecht von Gedanken, Bildern und letztendlich Worten zu einem Text komponiert. Sprich: Welche Kräfte und Einflüsse sind es, welche die Imagination des Dichters speisen. Für den Erzähler von «Malinois», einem Zweiundvierzigjährigen, dessen «Existenz seit dem Tag meiner Geburt ohne Lücke» ist, spielt dabei die Erinnerung eine zentrale Rolle. Erinnerung als Empfindung, welche die Imagination beflügeln.


Unkontrollierbare Erinnerung


Wobei der Erzähler sich darüber aufregt, dass er sich nicht mehr darin erinnern kann, wie seine Mutter ihn als Kind zärtlich im Bad gewaschen hat. Dagegen plagt seine Erinnerung eine «lose Bodenplatte im Korridor». Ja, sein Ärger über seine offenbar nicht beeinflussbaren Erinnerungen nimmt solche grotesken Formen an, dass er sich fast wünscht, seine «Liebste» – «deine Lippen, deine Hüften und dein Busen» – von einer «Lebensnotwendigkeit zu einer Nebensächlichkeit» herabzustufen, damit er sie nicht vergisst, wenn sie einmal nicht mehr sein sollte. Denn für ihn ist das Gedächtnis ein «Tyrann», der dem Bewusstsein und der Vernunft seine Streiche spielt. Erinnerungen sind für den Erzähler bewegende, unkontrollierbare Sinneseindrücke, die ebenso unkontrollierbare Empfindungen auslösen können. Und aus so einer amorphen Erinnerung und Empfindung heraus nimmt dann plötzlich diese verrückte Geschichte mit dem Malinois vor dem geistigen Auge des Erzählers Gestalt an. Erinnerung, Empfindung und poetischer Gestaltungswille schaukeln sich dann im Verlauf des Erzählens derart hoch, ja verführen sich gegenseitig, dass die Geschichte am Ende komplett aus dem Ruder läuft.


Roter Faden durchs Buch


«Malinois» ist sicher die Schlüsselstory des Erzählbands von Lukas Bärfuss. Wobei das literarische Zusammenspiel von Erinnerung und poetischer Imagination sich wie ein roter Faden auch durch fast alle anderen Geschichten zieht und dabei immer neue Bedeutungsfacetten zum Leuchten bringt. Eine literarische Qualität der Texte, die den Erzählband mit einem geheimnisvollen Potenzial ausstattet. Andererseits ist Bärfuss’ erster Erzählband nicht frei von Fragwürdigkeiten. Denn es beschleicht einen das Gefühl, dass der Schriftsteller und der deutsche Wallstein Verlag vor der Büchner-Preis-Verleihung im November nach einem Weg gesucht haben, die literarische Öffentlichkeit unbedingt nochmals auf sich aufmerksam machen zu müssen – obwohl Bärfuss ja in den letzten Jahren schon durch zahlreiche Romane wie «Hundert Tage» (2008), «Koala» (2014) und «Hagard» (2017) Schlagzeilen gemacht hat und zu Recht als einer der derzeit interessantestesten deutschsprachigen Autoren gehandelt wird.


Stories nicht ganz taufrisch


Allerdings sind die nun publizierten Erzählungen alles andere als taufrisch. Im Gegenteil. Wie Bärfuss im Nachwort selbst anmerkt, sind diese Erzählungen über einen Zeitraum von mehr als zwanzig Jahren entstanden. Und da der Zürcher Autor die Geschichten nur notdürftig überarbeitet hat, verfestigt sich beim Lesen der Eindruck, dass die einzelnen Texte eben nicht mehr ganz der aktuellen literarischen Reife des Autors gerecht werden. Einige der 13 Geschichten, in denen es um Liebe, Beziehungen und spezielle Lebenssituationen geht, wirken nämlich sehr konstruiert. Psychologisch unbefriedigend. Von den Sujets her sperrig. Man spürt auch, dass trotz der so beeindruckenden und kraftvollen Lakonie im Schreibstil von Lukas Bärfuss Erzählungen beziehungsweise Kurzgeschichten nicht unbedingt seine Paradedisziplin sind. Man hat eher das Gefühl, er braucht mehr Platz, um sich richtig entfalten zu können. Das zeigt auch der Torso «Eine feine Nase» – eine Geschichte, die ursprünglich als umfangreicher Gesellschaftsroman konzipiert war. Bärfuss hat den Text in «Malinois» zu einer sechsseitigen, farblosen Erzählung abgespeckt.


«Antigravitationshaschisch»


Absolut berauschend wirkt indes seine Erzählung «Haschisch». Es ist fast eine Art Kiffologie, die Bärfuss hier entwickelt. Er illustriert dabei nicht nur sehr kennerhaft, welche Genüsse Haschisch zu bieten hat – vom leichten Libanesi über den schwarzen Afghanen bis zum goldenen Berber. Er liefert mit dem Text eine Litanei und Soziologie der Sucht, die Nichtsüchtige zumindest lesesüchtig macht. «Antigravitationshaschisch» nennt der Erzähler jenen Stoff, der einen abheben lässt – etwa «an einem warmen Frühlingstag an der schattigen Böschung». Nach dem Motto: To dope at the slope.


Auch Frauen nehmen Hasch


Dass Haschisch auch Kriege finanziert, ist nicht neu. Dass Haschisch einsam macht, dagegen schon. «Es gab in ihren Leben, ausser ihren Müttern, keine Frauen. Das Haschisch war eine eifersüchtige Leidenschaft.» Auch Frauen nehmen in der Erzählung Drogen zu sich. Und zwar nicht zu knapp, wie der Erzähler der Geschichte nicht verhehlt. «Es gab auch Frauen, die rauchten, aber etwas im Verhältnis zwischen ihnen und dem Haschisch schien nicht zu stimmen ... Die Frauen genossen das Haschisch nie.» Interessant.


Einsiedler Anzeiger / Wolfgang Holz

Autor

Einsiedler Anzeiger

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Kategorie

  • Literatur

Publiziert am

01.10.2019

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