Musik
«Oft gar nicht bewusst, wie engagiert und reichhaltig Einsiedeln ist»
Unterwegs zu sein gehört zum Beruf von Nadja Räss. Auch wenn Orte und Länder wechseln, die Konstante in ihrem Leben bleibt: das Jodeln, das Singen.
Gestern Toggenburg, morgen Luzern und dazwischen noch Japan und Taiwan: Das Jodeln führt Nadja Räss nicht nur zu sich selbst, sondern auch in die Ferne – aus Einsiedeln hinaus in die ganze Schweiz und für eine Tournee auch mal nach Asien. Die Aufzählung ihrer Arbeitsorte lässt einen schwindlig werden: Gut sechs Jahre Intendantin der Klangwelt Toggenburg in der Ostschweiz, ab dem kommenden Herbst Dozentin an der Hochschule Luzern in der Zentralschweiz, dazu regelmässig nach Zürich an die Jodel Academy, zusätzlich verwurzelt in Einsiedeln als Dirigentin des Jodelklubs Waldstattecho und als Lehrerin im Teilpensum an der hiesigen Musikschule. In der Aufzählung fehlen Konzerte und Kurse – und alles, was auf einen zukommt, wenn man Nadja Räss ist: Eine der vielseitigsten Jodlerinnen der Schweiz. Als rastlos empfindet die 39-Jährige ihr Tun nicht. Obwohl es schon «hektische Phasen» gibt, in denen sich alles überschneidet. In diesen beruflich aktivsten Zeiten kann sie sich auf ihr Organisationstalent verlassen. Für sich privat sucht und findet sie «schon ruhige Flecken». Sie hat sich ein E-Bike gekauft, obwohl sie lange dachte, «dafür wirklich noch zu jung zu sein». Der beste Kauf seit Langem ist es geworden: «Einsiedeln liegt in einer so schönen Gegend mit so tollen Routen.» Hohe Priorität geniesst ihr einjähriges Gottenmädchen, das sie regelmässig hütet: «Das Schönste, was ich einem Menschen schenken kann, ist Zeit.» Dankbar ist sie auch ihrem «toleranten» Kollegenkreis, der ihr nachsieht, wenn sie manchmal länger keine Zeit hat. Beruflich unterwegs zu sein, fällt ihr leicht, wenn es «regelmässig ist wie nach Luzern». Die Stunden im Zug nutzt sie für Büroarbeiten, welche dann zu Hause nicht mehr anfallen. Zu den Konzerten fährt sie meistens mit dem Auto, was «mittlerweile Teil eines Rituals geworden» ist: Im Anschluss daran «fahre ich nicht nur zurück, sondern auch hinunter … An Schlaf ist direkt nach einem solchen Adrenalinschub ohnehin nicht zu denken».
Zurück nach Einsiedeln
2015 zügelte Nadja Räss nach einigen Auswärtsjahren wieder zurück nach Einsiedeln. Und da sie im gleichen Jahr auch die Direktion des Jodelklubs Waldstattecho übernahm, sei sie gleich «im Schnellverfahren wieder aufgenommen worden». Die Rückkehr war für sie ein wichtiger Schritt: «Mir wurde bewusst, wie sehr ich die Atmosphäre hier im Dorf schätze. Man kennt und grüsst sich, und kann trotzdem privat bleiben.» Und wenn sie re ektiert, was hier «alles läuft», kommt sie ins Staunen: «Wir sind uns manchmal gar nicht bewusst, wie engagiert und reichhaltig unser Dorf, ja die ganze Gegend ist.»
Gestern Toggenburg …
Sechseinhalb Jahre lang war Nadja Räss Intendantin der Klangwelt Toggenburg. Sie blickt auf «eine faszinierende Aufgabe, eine spannende und lehrreiche Zeit» zurück. Doch das «vielfältige Päckli wurde mir vor allem organisatorisch zu gross»; das Singen kam zu ihrem Bedauern zu kurz. Vor einem Jahr informierte sie, dass sie als Intendantin zurücktrete. Das Klangfestival Naturstimmen vom Mai dieses Jahres war ihr letztes. Beruflich setzte sie ganz auf die Karte Jodeln, sei es auf der Bühne oder als Lehrerin.
Morgen Luzern …
Und dann kam eine Meldung im Januar dieses Jahres, die für ziemliches Aufsehen sorgte: «Das Institut für Jazz und Volksmusik der Hochschule Luzern hat die hochkarätige Sängerin Nadja Räss verpflichtet.» Nicht weniger Wellen warf auch das Hauptfach «Jodel». Das gab und gibt es bisher in der Schweiz noch nicht! Parallel dazu übernimmt Räss die Leitung des Studienbereichs «Volksmusik» von Dani Häusler. Bis anhin war es an der HSLU nicht möglich, die Künste des Jodelns zu erlernen. Und dies, obwohl der Studienbereich Volksmusik seit 2010 existiert. Departementsdirektor Michael Kaufmann sagt denn auch: «Wir haben schon lange davon geträumt, Jodeln an der Hochschule anzubieten. Und mit Nadja Räss haben wir die Nummer eins erhalten. Sie ist für uns ein absoluter Glücksfall.» Von ihrem musikalischen Wissen würden die Studenten und letztlich auch die gesamte Szene und das Publikum profitieren, ist Kaufmann überzeugt.
«Als Jodlerin eine Exotin»
«Ich freue mich unglaublich», sagt die neue Dozentin Nadja Räss. Der Studiengang sei zwar neu, aber nicht unrealistisch: «Das zeigen Beispiele aus dem Ausland.» Die eidgenössisch diplomierte Gesangspädagogin möchte eigene Erfahrungen weitergeben, welche sie als Studentin an der Zürcher Hochschule der Künste selbst machen durfte: Im Zentrum ihres Studiums stand mangels Alternative die Klassik; eine adäquate Jodel- Ausbildung existierte im Jahr 2000 noch nicht. «Als Jodlerin war ich eine Exotin.» Da das Jodeln aber parallel weiterlief und sie zusätzlich noch zwei Semester Jazz-Gesangsstunden nahm, bestärkte dies ihre Überzeugung, dass «es nicht um die Stilrichtung geht, sondern um das Instrument Stimme». Das sah auch Daniel Fueter so: Für den damaligen Leiter der ZHDK (der als «Casanova»-Komponist erst noch im November und Dezember im Kino Etzel aufgetreten ist) war es in Ordnung, dass Nadja Räss an ihrem Diplom-Konzert der Ausbildungsrichtung «Klassik» auch jodeln durfte. Das war erst- und einmalig! Es gab gute Noten, viele Komplimente und die ernsthafte Ermunterung, es trotzdem auf der Opernbühne zu versuchen. Diese «schönen Rückmeldungen» freuen Nadja Räss noch heute. «Doch für mich war immer klar, Jodlerin zu werden. Und dem trauere ich keinen Tag nach.»
Befruchtend
Dass nun die Hochschule Luzern 2020 in einem Neubau Klassik, Jazz und Volksmusik zusammenführt, geht für Räss daher über eine rein logistische Überlegung hinaus: «Diese Bereiche rücken nicht nur räumlich zusammen, sie befruchten sich.» Sie erlebt selbst, dass die Annäherung der Stilrichtungen «selbstverständlicher geworden» ist. Eine Ausbildung brauche und habe Leitplanken: «Aber man muss auch darüber hinausschauen.» Mit dem neuen Hauptfach «Jodel» will Räss den Studenten und Studentinnen eine profunde Basis legen, Kenntnisse der verschiedenen Stilrichtungen vermitteln und letztlich eine Offenheit entwickeln, welche den zukünftigen Berufsleuten zugute kommt: Der grösste Teil der Studierenden unterrichtet als Musikpädagoge an einer Musikschule. «Und da geht es zuallererst einmal um das Instrument Stimme, und nicht um eine bestimmte Stilrichtung.»
Einsiedler Anzeiger / Victor Kälin
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Einsiedler Anzeiger
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