Literatur
«Wir brauchen Geschichten, um die Welt zu verstehen»
Am Donnerstag vor einer Woche fand an der Stiftsschule Einsiedeln als Teil des theaterpädagogischen Projekts eine Schreibwerkstatt unter der Leitung von Welttheater-Autor Lukas Bärfuss statt.
Interessierte Schülerinnen und Schüler konnten sich in den freiwilligen Kurs eintragen und wurden dafür vom gewohnten Unterricht dispensiert. 15 geschichtenbegeisterte junge Frauen aus allen Klassen wollten am Donnerstagnachmittag zwei Stunden lang das Geschichtenschreiben von Lukas Bärfuss lernen. Das Ziel dieses Kurses war es, den eigenen Werkzeugkoffer zu füllen, damit man eine spannende Geschichte schreiben könne. Doch Bärfuss drehte das gleich um: «Ich lerne vor allem von euch, heute werden wir etwas Gemeinsames machen!» Er wolle schauen, welche Rückmeldungen von den Jugendlichen kommen und was sie für Ideen hätten. So könne er von Erfahrungen einer Generation profitieren, die ihm sonst fehlen würden.
Erzählerisches Moment
Er begrüsste die Jugendlichen mit den provokativen Worten: «Willkommen zum wichtigsten Kurs des ganzen Schuljahres! » Daraufhin erntete er Gelächter und konnte damit gleich zum Thema überleiten, dies sei nämlich ein sogenanntes «erzählerisches Moment», das man sich beim Geschichtenerzählen zunutze machen könne, darauf käme er später noch zurück. Dass nur Mädchen im Studierraum waren (der einzige angemeldete Junge war leider krank), erstaunte Lukas Bärfuss: «Die Jungs dachten wohl, dass sie diesen Kurs nicht brauchen, damit könne man schliesslich nicht reich werden – wir werden ihnen das Gegenteil beweisen!» Denn Geschichten zu schreiben sei entscheidend wichtig für die Welt, in der wir leben, denn diese bestehe aus Erzählungen. «Und wir brauchen Geschichten, um die Welt zu verstehen», ergänzte Bärfuss. Auch die heutige Werbung mache es sich zunutze, die Kunden durch Geschichten zu verführen. Also, so fasste er zusammen, sei es eine Kernkompetenz in der heutigen Zeit, Geschichten zu erzählen und schreiben zu können.
Vorstellrunde
Bärfuss startete mit einer Vorstellungsrunde und begann bei sich selber. Er lebte auf der Strasse und hatte nicht viele Möglichkeiten. Mitte 20 wollte er etwas aus sich machen und wurde Schriftsteller, da man sich einfach so nennen konnte. Er schrieb sehr viel, zu Beginn vor allem Theaterstücke, aber auch Romane und Essays. Er stellte auch ein Programm zusammen, um zu lernen, wie man schreibt. Regelmässig Lesen und Schreiben sei das A und O. Beim Lernen, gut zu schreiben, helfe sogar das Abschreiben von Lieblingstexten. Bei der anschliessenden Vorstellungsrunde gaben – nicht ganz überraschend – praktisch alle an, gerne zu lesen. Einige erzählten, bereits Schreiberfahrung zu haben, andere waren gänzlich unerfahren im Selber-Schreiben. Wobei das relativ sei, denn Bärfuss erklärte: «Auch Handy-Nachrichten zu schreiben, ist eine Art Geschichten zu schreiben und Chatverläufe sind zum Teil wie Theaterstücke!»
Literarische Figur
Dann führte Lukas Bärfuss in die literarische Figur ein, die jede Geschichte brauche. Es wurden drei Figuren gesucht und mit Harry Potter, Faust und Obelix drei gefunden, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Aber Bärfuss widersprach: «Alle Figuren haben eine Stärke, die sie auszeichnet und eine Schwäche – oder auch mehrere.» Es braucht immer zwingend beides, damit eine Spannung geschaffen werden kann. Und sowohl Stärken wie auch Schwächen werden immer übertrieben dargestellt: «Es gibt nie zuviel des Guten!» Dann braucht diese Figur eine Perspektive, also ein Ziel, welches sie um jeden Preis erreichen möchte. Und so entwickelten alle Kursteilnehmerinnen in sieben Minuten ihre eigenen, extrem vielfältigen Figuren, die zum Teil schon durch erste Geschichten ergänzt wurden. Es gab eine Eiskunstläuferin, die nicht gerne eiskunstlief, es gab einen äusserst arroganten Bodybuilder und eine Kriegsheldin, die den Vater ihrer Tochter finden musste. Auch die Attribute der Figuren waren vielfältig: ängstlich, stark, intelligent, perfektionistisch, talentiert oder auch egoistisch – und das immer in extremis und nicht nur ein wenig!
Intensiver Schlussspurt
Die Zeit verging wie im Flug und so blieb für das eigentliche Geschichtenschreiben nur sehr wenig Zeit. Denn natürlich braucht eine Geschichte auch eine Handlung. Dabei kommt die literarische Figur in einen Konflikt – in einen lokalen, einen globalen oder auch einen inneren. Die Handlung sei die Reise vom Startpunkt bis zum Endpunkt. Woher komme ich, wohin will ich? Und welche Hindernisse liegen auf dem Weg? In Geschichten sollen immer wieder Abzweiger eingebaut werden, damit die Leserschaft warten muss. Und wenn man unerwartete Dinge einbaue, wie ein erzählerisches Moment, habe man die totale Aufmerksamkeit des Lesers. Warum die Schülerinnen an den Schreibmaschinen arbeiten sollten, erklärte Bärfuss folgendermassen: «Die sind altmodisch, da kann man nicht einfach wieder korrigieren! Wir wollen unsere Geschichten nicht löschen, denn wir möchten Spuren hinterlassen. Schreibt ohne Scham!» Sie sollen ihre Stimme erheben und den Mut haben, die eigenen Geschichten auszusprechen. So starteten die jungen Frauen im Kollektiv an drei Schreibmaschinen das Abschlussprojekt. Ohne den Zwang, etwas Eigenes zu entwickeln. Sie mussten in 60 Sekunden eine Geschichte schreiben, die von jemand anderem weitergeschrieben wird. Die lustigen Kreationen wurden zum Abschluss vorgetragen und so nahm ein spannender Workshop sein Ende. Beim theaterpädagogischen Projekt wirken 1600 Schülerinnen und Schüler des Bezirks Einsiedeln, der Gemeinde Feusisberg, Schindellegi und Alpthal mit. Die Bewegung gipfelt in einem Theaterspektakel auf dem Klosterplatz – am 25. Mai 2024 anlässlich der 100-Jahr-Feier des Welttheaters. Die Stiftsschule bietet den Schülerinnen und Schülern verschiedene Angebote in diesem Rahmen an.
Einsiedler Anzeiger / Angela Suter
Autor
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