Literatur
Zwei Liter Tränen für ein zweites Buch
Vreni Küttels erstes Buch war über 700 zügig geschriebene Seiten dick. Ihr zweites hat nur 240 Seiten. Zwei emotionale Jahre hat sie daran gearbeitet. Es hat sie zwei Liter Tränen gekostet.
Vreni Küttels zweites Buch beginnt beklemmend. Die heute 65-jährige Frau erzählt vom Jahr 1968, als sie als junge, ausgebildete Bäuerin eine gut bezahlte Stelle in einer Gärtnerei antrat. Man will ihr zurufen: «lauf weg», denn was diese junge, im Berufsleben noch unerfahrene Frau an dieser Arbeitsstelle erlebte, dreht einem beim Lesen fast den Magen um. Das Klima ist religiös verklemmt, die Kinder verwahrlost, die Frau überfordert und der Mann ein Tyrann. Nachts steigt er durchs Fenster in Vreni Küttels Zimmer. Sie wehrt sich mit letzter Kraft, jagt ihn weg und fühlt sich unter seinen Drohungen nicht nur als Opfer, sondern auch schuldig.
Als Kind missbraucht
Schuldig fühlte sie sich auch als sechsjähriges Mädchen, als sie auf dem elterlichen Bauernhof während Monaten von einem Knecht missbraucht wurde. Als der Vater dahinterkam, riss er das Mädchen von seinem Peiniger weg, schrie es an und schlug es durch und durch. Das arme, geschändete Kind musste 49 Jahre alt werden, um diese schlimmen Kindheitserinnerungen dem Ehemann zu offenbaren. Bereits in ihrem ersten Buch «Oberurmi I» spricht Vreni Küttel die Tat an, aber mit Abstand. In ihrem zweiten nun lässt sie den Emotionen freien Lauf. Die Tränen flossen, zwei Liter schätzt sie. Es ist die Verarbeitung einer von Schicksalsschlägen geprägten Lebensgeschichte.
Die Lawine rollte an
Eigentlich wollte Vreni Küttel kein zweites Buch schreiben. Doch kaum hatte sie ihr erstes vollendet, bekam sie Anrufe und Anfragen. Habt ihr kein Heimweh nach dem Hof? Was machen die Kinder? Auch sagten Leserinnen und Leser, das Buch habe abrupt geendet, die Geschichte sei nicht fertig erzählt. Tatsächlich sei manches «z Tod gschwiege» worden, erklärt Vreni Küttel. Es folgten intensive Gespräche mit ihren drei Kindern, mit ihrem Mann Felix, den, wie die Autorin selber, lange Heimweh nach dem Hof «Oberurmi» plagte. All das erzählt Vreni Küttel in ihrem Buch. Sie vergleicht den Ausbruch ihrer Gefühle mit einer Lawine, die erst langsam losrollte und immer grösser wurde. Man glaubt der Autorin, dass sie sich nach der Vollendung des Buches «geistig um Jahre jünger fühlt». Der Kopf sei leer, nun habe es Platz für neues, strahlt sie.
«Nicht alles schlucken»
Das Buch hat Vreni Küttel und ihre Familie enorm erleichtert. Was aber bringt es den Leserinnen und Lesern? «Tausende Leute finden im Buch Parallelen zu ihrem eigenen Leben», ist Vreni Küttel überzeugt. Man soll sich nicht immer nur zurückziehen, schweigen, hoffen, warten und beten. Spüre man, dass etwas für einen selber nicht stimme, dann soll man das ansprechen, ohne gleich mit der Tür ins Haus zu fallen. Ihre Aufforderung ist klar: «Einfach nicht mehr alles schlucken.» Vreni Küttel ist eine starke Frau und macht das garantiert nicht mehr. Ihrem Hobby, dem Schreiben, bleibt sie treu. Sie schreibt weiter, diesmal an einem Theaterstück. Mehr will sie dazu nicht verraten.
Die zwei Bücher von Vreni Küttel
Vreni Küttels erstes Buch «Oberurmi – geliebt – gelebt – verkauft» beschreibt das Leben der am Zürcher Obersee aufgewachsenen Sankt Gallerin, die einen Bergbauern aus Gersau heiratet, zu ihm in den Bauernhof auf über 1100 Meter über Meer an der Kantonsgrenze von Schwyz und Luzern zieht. Der Hof war jahrelang weder durch eine Seilbahn noch mit einer Strasse erschlossen und nur zu Fuss erreichbar. Die Kinder hatten einen zweistündigen Schulweg nach Gersau. Da keines der Kinder den Hof übernehmen will, ziehen Küttels – nicht zuletzt wegen Differenzen mit den Nachbarn – nach Jona, wo die Autorin aufgewachsen und eine harte, arbeitsreiche Jugend erlebt hatte. Aus dem Bergbauern Felix Küttel wird nun ein Hausabwart, und die Jodlerin Vreni Küttel schreibt ihr erstes dickes Buch. Das zweite Buch «Oberurmi II – Reden …?Verdrängen …?» umkreist dieselben Themen wie «Oberurmi I»: den Missbrauch als Kind, das Ausgegrenztsein in der Familie, das Heimweh nach dem Oberurmi und das enge Verhältnis zu den drei Kindern. Doch im zweiten Buch klammert Vreni Küttel ihre
Autor
Bote der Urschweiz
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Kategorie
- Literatur
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