Literatur

Vom Klavierstuhl runtersegeln

Er wolle die Schweiz «zu seiner Traumfabrik» machen, erklärt einer im neuen Buch Margrit Schribers. Aber eigentlich ist sie das ohnehin schon, bereits vom ersten Satz an. Und Leny Bider, eine glamouröse Schauspielerin, hebt ab, etwas zu sehr …

Blöd! Einmal fällt Leny Bider vom Klavierstuhl. Ist ein solches Missgeschick nicht allzu doof eigentlich? Muss das erzählt werden? Dazu noch von der Hauptfigur ausgerechnet? Es muss. Denn eben darin ist Margrit Schriber eine einzigartige Schriftstellerin: in ihrer Fähigkeit, das Verstörende kleiner Alltagswidrigkeiten ins Licht zu holen. Klug macht sie das auch im eben erschienen Roman «Das zweitbeste Glück» – wieder nüchtern analytisch, zugleich in ironischer Pointierung, aber auch mit Empathie.

Roman, nicht Schweizer Geschichte

Wie so oft bei Margrit Schriber hat sich die Geschichte ihres neuen Buchs wirklich ereignet. Am 7. Juli 1919 fand man Leny Bider tot im Zimmer eines Zürcher Nobelhotels, wo sie auch gewohnt hatte. Wenige Stunden zuvor war ihr Bruder Oskar bei einer Flugakrobatik-Vorführung tödlich verunfallt. Leny war damals eine 24-jährige Diva des jungen Stummfilmkinos, ihr Bruder Oskar einer der ganz erfolgreichen unter den ersten Schweizer Flugpionieren. So kreist denn also Schribers Roman um zwei berühmte Persönlichkeiten, die es tatsächlich gab. Aber aus dieser historischen Wahrheit bricht im Roman eine andere, gleichsam nicht offizielle: jene zweideutige und verwickelte Wahrheit, die auch mit dem Verstörenden des Alltags zu Rande kommen will und muss. Wohl darum ist der Fall vom Klavierstuhl mit dem Titel des Buches verknüpft. Leny Bider notiert in ihr Tagebuch: «Das erste Glück ist, nicht geboren zu werden, das zweite, sterben zu können. So, jetzt bin ich noch vom Klavierstuhl runtergesegelt, jerum.» Natürlich ist der Fall vom Klavierstuhl eine Lappalie nur, darum das ironische Augenzwinkern. Aber ein treffliches Bild ist er ebenfalls. Was da den Alltag nur wenig, gleichsam en miniature, aus den Fugen schmeisst, das ist in grösserem Massstab der Tod. Er ist das verstörend Unberechenbare par excellence. Er fährt drein in den Dekor eines hochgepriesenen Glamours – und vorbei ist jede äussere Herrlichkeit. Die öffentlichenTapeten haben Risse, im kleinen Alltag ebenso wie im grossen Gerede.

Der Sog der Flitterwelt

Das Glücksversprechen unserer Unterhaltungs- und Eventkultur kann demzufolge höchstens das drittbeste Glück sein, wenn überhaupt. Mag der Sog aus der täglich produzierenden Traumfabrik noch so mächtig in und durch die moderne Menschheit fluten, er zieht uns auch kräftig an unsere Oberfläche – also: weg von unserem Persönlichkeitskern. Der wird ausgelagert in die Prestigewelt aus Glanz und Gloria. Doch für einen intensiven und stabilen Lebensvollzug – was bleibt? Erstens: Inszenierung. Das Bild hierfür ist eine heilsameVerwirrung: Leny will Schauspielerin werden, und je mehr der Roman fortschreitet, desto mehr fragen wir uns beim Lesen: Was ist an ihr authentisch? Oder ist vielleicht alles nur Rollendasein und nichts sonst? Zweitens: Verlust von Halt und Heim. Das Bild hierfür: Leny wohnt im Hotel. Das muss nicht erstaunen. Wenn wir allen möglichen Einflüssen ausgesetzt sind, nicht mehr aber dem, was von innen oder oben her drängt und wächst und Sinn setzt, dann geraten wir ins labil Unverbindliche. Der postmoderne Mensch ist auch bei Schriber nicht, wie für die Mittelalterlichen, ein Pilger auf dem Weg zu höherem Sinn, sondern ein irrender Nomade im Belanglosen. Selbst Leny Biders Männer sind austauschbar. Den jungen Verehrer aber, der es eigentlich ernst meinte, nimmt sie gar nicht wahr. Drittens: das Verschwinden in ein Nichts. Sogar der Tod ist in dieser Glamourwelt nicht mehr christlich ein Durchbruch zum Persönlichkeitskern, nicht mehr das Ureigene. Inszenierung auch er. Das Bild hierfür: Ihren Freitod begründet Leny nicht aus eigener Überlegung, sondern mit einem Zitat einer berühmten Person. Nämlich mit dem letzten Satz der Mata Hari, und der lautet: «Alles nur Illusion! Zu sterben, zu schlafen, ins Nichts zu verschwinden, was macht das schon?»

Exzentrisch gar in der Erotik

Mata Hari als Bezugsperson Leny Biders ist mit feiner Ironie gewählt: Als Spionin war Mata Hari ebenfalls schon heimat

Autor

Bote der Urschweiz

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Kategorie

  • Literatur

Publiziert am

27.09.2011

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