Auf ihr Konzert darf man sich freuen: die Schwyzer Dirigentin Graziella Contratto. Bild: Silvia Camenzind
Auf ihr Konzert darf man sich freuen: die Schwyzer Dirigentin Graziella Contratto. Bild: Silvia Camenzind

Musik

«Am liebsten wäre uns, wenn nachher die Melodien gepfiffen würden»

Am Montag gastiert die Dirigentin Graziella Contratto wieder einmal in Schwyz. Sie bringt Musik von Gustav Mahler mit und erzählt im Interview, weshalb ihr der Nachwuchs so am Herzen liegt.

Mit Graziella Contratto sprach Silvia Camenzind


Silvia Camenzind: Sie gastieren am Montag wieder einmal als Dirigentin im MythenForum. Was zieht Sie nach Schwyz?


Graziella Contratto: Zum einen ist es ja fast schon eine kleine Tradition, dass ich gerne mit Musik von Gustav Mahler nach Schwyz komme: 1997 begann das Abenteuer mit seiner dritten Sinfonie, dann folgte die vierte, sein Spätwerk mit dem Titel «Das Lied von der Erde», und nun darf ich ein eher früheres Werk, den Orchesterliedzyklus «Aus des Knaben Wunderhorn», vorstellen. Ich bin überzeugt, dass der damals vor allem als Dirigent bekannte Mahler, der selber ein begeisterter Bergsteiger war und sich immer in den Sommerferien ins Südtirol zum Komponieren zurückzog, die Schwyzer Landschaft bestimmt geliebt hätte.


Welches Orchester wird in Schwyz zu hören sein?


Am 9. April begleite ich die besten Gesangsstudierenden «meiner» Musikhochschule HKB aus Bern, so kann ich sozusagen drei wichtige Säulen meiner Arbeit miteinander verbinden: das Dirigieren, meine Heimat Schwyz und meine neue Aufgabe als Hochschulmanagerin. Das Orchester ist ein speziell aus Hochschulstudierenden zusammengestelltes Kammerorchester.


«Wunderhorn unter den Mythen» heisst das Konzert. Was sind die Wunderhornlieder?


Man könnte sagen, Mahler, der ja rund 50 Jahre nach dem Tod von Franz Schubert geboren wurde, führt dessen Liedtradition weiter und fügt die für das späte 19. Jahrhundert typische Doppelbödigkeit in die Orchesterbegleitung ein: Die Gedichte aus der Sammlung «Des Knaben Wunderhorn» stammen aus der früheren Romantik und sind recht unschuldig, fast naiv. In Mahlers Vertonung aus den Jahren 1892–1901 spürt man, dass Sigmund Freud zur gleichen Zeit das Unterbewusste, das Geträumte an die Oberfläche des Bewusstseins der Menschen holte. Auch in den Wunderhornliedern gibt es mindestens zwei Möglichkeiten, den gesungenen Text zu deuten.


Welche Möglichkeiten sind das?


Die feurige Liebe ist eigentlich fragil, der Gefangene ist innerlich frei, die inbrünstige Predigt des Sankt Antonius bewirkt bei den Fischen ganz und gar nichts … Wir spielen eine Bearbeitung für Kammerorchester von Klaus Simon – dadurch sind die einzelnen Instrumente, die ein wenig wie zusätzliche Sänger wirken, noch viel besser hörbar. Am liebsten wäre uns, wenn in der Zeit nach dem Konzert die Melodien auf allen Dorfstrassen gepfiffen, gesummt und gecovert würden.


Also eigentliche Ohrwürmer?


Richtig. Gemeinsam mit den Freunden des MythenForums haben wir uns überlegt, dass diese Mahlerlieder, die wirklich fürs Ohr sind, wie mein lieber Vater gesagt hätte, auch ganz junge Menschen ansprechen könnten. Aus diesem Grund werde ich zusammen mit ein paar Studierenden so viele Schwyzer Jugendmusikschüler und -schülerinnen wie möglich gegen Ende der Einspielprobe um 15.45 Uhr im MythenForum empfangen und mit ihnen über Mahlers Musik sprechen. Wir singen zusammen ein Lied, das leicht verändert auch im Konzert erklingen wird. Domenico Emanuele, der Leiter der Musikschule, war mir bei der Organisation und der Ideensammlung eine grosse Hilfe. Wir haben uns sogar mit Rücksicht auf die jungen Zuhörerinnen und Zuhörer entschieden, das Konzert um 18 Uhr zu beginnen.


Warum liegt Ihnen der Nachwuchs so sehr am Herzen?


Auch hier liegen die Ursprünge meiner Haltung sicher in Schwyz und meiner eigenen musikalischen Sozialisierung dank der Jugendmusikschule, der verschiedenen Laienorchester und der Kammermusikensembles, bei denen ich in Schwyz mitwirken durfte. Als Pianistin und als Dirigentin habe ich in zahlreichen Ländern immer wieder mit jungen Leuten zusammengearbeitet, und am Davos Festival konnte ich während sieben Jahren internationale Musiktalente in verschiedenen kammermusikalischen Programmen einem breiten Publikum vorstellen. Auf der einen Seite kann ich jungen Musikerinnen und Musikern etwas von meiner eigenen Erfahrung mitgeben, auf der anderen Seite gibt uns jede Generation gleichzeitig wieder die Chance, Musik mit anderen Augen und Ohren zu erleben.


Dirigieren auch Sie heute anders als früher?


Ich dirigiere die Wunderhornlieder mit dem HKB-Ensemble sicher anders als noch vor ein paar Jahren zusammen mit meinem damaligen Savoyer Orchester und international bereits routinierten Solisten. Mahler hat selber das Vorurteilslose im Kindlichen oder sagen wir das Vorzivilisierte im Volkswesen als Inspirationsquelle für seine Musik genutzt – das hört man in den Liedern unentwegt. Die Entscheidung, junge Stimmen zu nehmen und nicht schwergewichtige Wagnerhelden, fügt sich perfekt in diese gewisse Unversehrtheit der Lieder ein.


Was kann klassische Musik heute noch bewirken?


Ich bin hier natürlich eher befangen, aber die Verteidigung des kulturellen Glücks für Menschen jeden Alters, jeder Kultur, Herkunft und Prägung ist für mich ein Menschenrecht. Ich finde es erschreckend, wenn aus Schulplänen die Musik einfach ersatzlos gestrichen wird oder – mit sogenannten Kompetenz-Modellen – Kinder und Jugendliche jeglicher Möglichkeit zur kreativen Entfaltung beraubt werden. Das Recht, abseits von Mainstreamberieselung und kommerziellem Diktat seine eigene Musik zu entdecken oder zu erfinden – das ist ein unschätzbares Gut für jedes Kind.


Wird «Wunderhorn» noch unter anderen Bergen gespielt? Gehen Sie auf Tournee?


Wir spielen dasselbe Programm auch noch zwei Tage später in der Stadt Bern. Anschliessend geht es ins Radiostudio Zürich für eine CD-Produktion.


Sie haben ein eigenes Klassiklabel gegründet.


Ganz genau, es heisst Schweizer Grammophon und soll entweder im aufgenommenen Werk, bei den Interpretinnen und Interpreten oder sonst in einem Kontext etwas Schweizerisches enthalten. Ich habe das Label zusammen mit meinem Mann gegründet, er übernimmt die künstlerische Aufnahmeleitung im Studio. Ich selber stelle die Programme und die Künstlerensembles zusammen und kümmere mich um das Administrative und die Promotion.


Warum machen Sie dies in Zeiten von Spotify?


Wir stehen für höchste musikalische und klangliche Qualität ein und denken, dass man mit einer kleinen, aber feinen Produktion durchaus noch etwas mit der guten alten CD bewirken kann. Das Logo wird übrigens die beiden Mythen in der Silhouette andeuten.


Kürzlich verstarb Ihr Vater. Behalten Sie weiterhin den Bezug zu Schwyz, dem Dorf, in dem Sie aufgewachsen sind?


Mein Vater hört uns sicher von irgendwo zu, falls nicht, ist er gerade in den Liedern, in denen eine gewisse Nostalgie zum Ausdruck kommen wird, ganz nah – das spüre ich bereits bei der Vorbereitung der Partituren. Und ja: Schwyz ist und bleibt der Ort meiner Herkunft, je älter man wird, desto stärker wird diese Rückbindung. Unsere Familie hat in den letzten Wochen einen derart starken Zuspruch und unzählige Zeichen des Trostes erhalten, dass wir fast das Gefühl hatten, als ob unsere Eltern nicht vergessen werden können. Genauso wenig vergesse ich all die Dinge, die mich mit dem Talkessel verbinden. Und die Freundschaften, die alles überdauert haben.


Sie blicken inzwischen von aussen auf Schwyz. Was hat sich in den letzten Jahren im Hauptort frappant verändert?


Die Nostalgie habe ich ja von meinem Vater geerbt: Ich schaue daher immer eher auf die Gegebenheiten, die sich überhaupt nicht verändert haben. Ein bisschen überrascht bin ich jedes Mal, wenn ich wieder eine neue Überbauung entdecke, aber das ist sicher ein langwieriger Planungsprozess. Sie sprachen eingangs von Ihrer neuen Aufgabe als Hochschulmanagerin.


Was machen Sie da genau?


Seit 2010 verantworte ich die künstlerische und strategische Ausrichtung des Fachbereichs Musik an der Hochschule der Künste Bern. Ich doziere also nicht, sondern versuche zusammen mit meinem Team, den Unterricht und die berufliche Planung für rund 450 Studierende so hochstehend und gleichzeitig praxisnah wie möglich zu gestalten. Da bei uns auch Jazz, sound art, Forschung, Vermittlung, Rhythmik, Komposition und Improvisation doziert werden, lerne ich immer wieder dazu und – ganz unerwartet – empfinde diese Job-Herausforderung immer noch als sehr inspirierend.


Ist Bern für Sie und Ihre Familie inzwischen Heimat geworden?


Für meinen Mann und unsere Tochter ganz bestimmt, ich selber pflege in alter Schwyzer Manier zwischendurch noch die Haltung des «die da oben in Bern müssen ja nicht meinen». Aber wir leben dort auf dem Land, und so kann ich unsere Tochter doch mit schwyzerischen Werten füttern, auch wenn ihr Dialekt noch etwas mehr Muotataler Sprachmelodie ertragen könnte …


Bote der Urschweiz / Silvia Camenzind

Autor

Bote der Urschweiz

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Kategorie

  • Musik

Publiziert am

07.04.2018

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