Andrea Knechtle in ihrem Van: «Man muss das Relevante zeigen.» Bild Michel Wassner
Andrea Knechtle in ihrem Van: «Man muss das Relevante zeigen.» Bild Michel Wassner
Bei der Lost Place-Fotografie kommt es wesentlich auf die Perspektive an. Bild zvg
Bei der Lost Place-Fotografie kommt es wesentlich auf die Perspektive an. Bild zvg

Dies & Das

Kunst & Design

Unterwegs in der faszinierenden Ästhetik des Verlorenen

Andrea Knechtle, wie die meisten Lost Place-Fotografen: kaum. «Meistens gehe ich einfach hinein, manchmal hole ich eine Genehmigung ein.» Das hat dann auch mit Erfahrung zu tun. «Mit der Zeit lernt man abzuschätzen, ob man an einem Ort fotografieren kann oder es lieber nicht probieren sollte.»

Staub, Dunkelheit, das Licht meist nur gebrochen: Orte an denen keiner mehr ist, und kaum jemand sein möchte. Andrea Knechtle schon. Sie sitzt in ihrer Wohnung in Bäch. Weit ab von ihrem Thema, den Lost Places. Auf dem Tisch liegt ein Exemplar von «Vestiges», ihrem Buch, druckfrisch. Wer ist diese Frau, die in verlassene Häuser geht, um Fotos zu machen? Knechtle ist in Freienbach aufgewachsen, selbständige Grafikdesignerin, ihr Atelier Quersicht ist auch dort, in Bäch. Fotografie ist schon lange ihr Hobby. «In den letzten Jahren habe ich mich weitergebildet und setze das Wissen jetzt auch beruflich ein.» Sie wollte mehr und fand ihr Thema: Lost Places. Der Buchtitel heisst übersetzt «Spuren». «Spuren der Menschen, die hier lebten; Spuren der Vergangenheit», so die Fotografin. Lost Places sind für sie eine Art Zeitkapsel. «Man macht Bilder, die zeigen, wie die Leute lebten.» Zu sehen sind Patina, Gebrauch, das Gestern, Nostalgie. «Das kann sehr ästhetisch sein.»


Eine von fünf Adressen


Besonders fasziniert ist Knechtle von der Epoche zwischen 1815 und 1914, der Hochblüte des Bürgertums. Für sie braucht ein Lost Place ein gewisses Alter. «Stuckaturen, Kronleuchter, Möbel.» Die Frau aus Bäch spricht gar von einem eigenen Fotografie-Genre. Die Faszination? Die Endstimmung, die Melancholie. «Für mich haben diese Worte per se nichts Negatives. Da ist viel Ästhetik in solch alten Gebäuden. Ich stelle mir gerne vor, was an dem Ort passiert sein könnte, und wie das Leben stattgefunden hat.» Vor dem Haus steht ein umgebauter Transporter. Darin kann man reisen, wohnen, unabhängig sein. Essen, Trinken, Schlafen, Fotos bearbeiten. Perfekt für Lost Place-Touren. «Wir reisen nach einem genauen Plan. Die Orte findet man durch lange Recherche im Internet und manchmal über Hinweise der Community.» Und auch so sind gute Fotos nicht garantiert. «Bei fünf Adressen kommt man vielleicht in einen Lost Place auch tatsächlich hinein.» Im Buch finden sich Fotos aus Frankreich, Spanien, Portugal, der Schweiz, Deutschland, Italien. «Man sieht Villen, Herrenhäuser, Paläste, Details», sagt Knechtle. Wenn die Fotografin erzählt, tönt es wie ein Geben und Nehmen. Sie bekommt die Bilder. Aber: «Ich möchte den Gebäuden auch ihre Wertschätzung zurückgeben. Man muss sie und die Dinge darin immer mit Respekt behandeln.» Ausserdem gehe es darum, die Orte zu dokumentieren. «Irgendwann wird es sie nicht mehr geben. » Ganz ungefährlich ist ihr Hobby natürlich nicht. «Man weiss nie, was einen erwartet.» Deshalb ist sie auch immer zu zweit unterwegs, mit ihrer Schwester.


Es geht um Dramaturgie


Im Buch finden sich verschiedene Perspektiven, Totale, Halbtotale, Detail. Bewusst. «Ich wollte nicht nur Weitwinkelaufnahmen. Mir ging es auch um einzelne Details und Strukturen.» Die Auswahl der Bilder erfolgte nach Land, ein Objekt hat zwei bis drei Doppelseiten. «Am Schluss eines jeden Landes kommen Fotos von Gegenständen wie beispielsweise einem Engelchen mit gebrochenen Flügeln. Diese Gegenstände wurden in Ruhe zu Hause auf einem einheitlichen Hintergrund fotografiert. Wer sich mit verlorenen Orten beschäftigt, weiss: Oft ist es dort sehr dunkel. «Da konnte ich nur mit Stativ und langen Belichtungen arbeiten. Ich verwende gerne ein Stativ, es ist ein langsameres und bewussteres Fotografieren. » Und ein Dilemma. Denn andererseits sollte man so manchen Lost Place schnellst möglich wieder verlassen. Auf die Frage, ob es denn erlaubt sei, verlassene Gebäude zu betreten und Fotos zu machen, antwortet

Geschriebenes zum Bild


Ein Fotobuch zu machen, ist aufwendig. «Die Bilder selbst sind über fünf Jahre hinweg entstanden. Für das Buch selbst brauchte ich ein knappes Jahr. Die Umsetzung so eines Projekts braucht Durchhaltewillen.» Und dann sind da noch die Texte von Markus Maeder. Er kommt aus Rapperswil, war Journalist, ist freier Autor. «Es war eine intensive Zusammenarbeit, ein Wechselspiel », sagt Knechtle. Seine Texte passen zu den Fotos. Oder umgekehrt. Da geht es dann um Wandfliesen, ein Weinglas, einen Notizblock. «Manche Gegenstände habe ich extra passend zu seinen Geschichten besorgt», erklärt sie. Nun gibt es Fotobuchautoren, die würden sagen, Geschriebenes lenkt von den Fotos ab. «Die Texte entwerten die Bilder keineswegs – im Gegenteil. Sie ermöglichen, sich auf einer anderen Ebene in die Fotos zu vertiefen.» Die Erzählungen sind übrigens fiktiv. Aber: «Maeder hat neben deutscher Literatur auch Geschichte studiert. Das heisst, in seinen Geschichten stimmt das historische Setting, die Handlung aber ist erfunden.» So erklärt es die Fotografin. Andrea Knechtle liebt das Fotografieren. Als Sujet haben es ihr sogenannte Lost Places angetan. Das ist da, wo keiner mehr ist. Es ist ein besonderes Genre, eine eigene Welt. Nun hat Knechtle ein Buch gestaltet. Ein Treffen, ein Gespräch und viel Begeisterung.

Höfner Volksblatt und March-Anzeiger / Michel Wassner

Autor

Höfner Volksblatt & March Anzeiger

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  • Kunst & Design

Publiziert am

16.06.2023

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