Literatur
Ihr neuer Roman wäre der beste «Tatort»
Martina Clavadetscher schreibt mit «Der Schrecken der anderen» einen Krimi mit einem originellen Detektiv-Duo und Schweizer Altnazis.
Die Clavadetscher kann ja richtig Krimi! SRF sollte diese clevere Autorin mal ein Drehbuch für den Schweizer «Tatort» schreiben lassen. Nur schon dieser Romanbeginn: Da bleibt ein dreizehnjähriger Junge auf dem gefrorenen Ödwilersee (den man als Sempachersee annehmen darf) mit seinen Schlittschuhen an einem Stück Jeansstoff hängen, fällt auf die Knie, flucht vor sich hin, wischt den Schnee vom Eis – und als er sieht, dass da ein Mann mit auffällig ausgestrecktem Arm im Eis festgefroren ist, schnellt er zurück und fällt auf den Hintern. Es bleibt nicht die einzige Leiche im neuen Roman «Die Schrecken der anderen» der Buchpreisträgerin Martina Clavadetscher. Uns erwartet am Ende des Romans ein finaler Mord. Der Krimiplot bietet auch eine Ehekrise, einen traumatisierten Polizisten, ein neues Kriegerdenkmal – und eben: alte Leichen im Keller, eine gruselige politische Geschichte rund um Schweizer Altnazis und junge Neonazis. Und weil die Autorin alles in einem Moorgebiet und nahe am Sempacher Winkelried- Denkmal ansiedelt, webt sie auch dunkle Mythen, gar Drachengeschichten, ein. Ein grosses Paket, das überdies die Frage nach Heldentum stellt.
Die mentalen Eingeweide einer reaktionären Schweiz
Die Klimaerwärmung lässt Schweizer Seen zwar kaum mehr schlittschuhtauglich zufrieren. Filmisch müsste ein «Tatort» hier ziemlich tricksen. Aber der Rest des Romans bietet bestes Filmmaterial. Zunächst das Ermittler-Duo: die geheimnisvolle «Alte», die sich vom Hippie zur global vernetzten Rachegöttin wandelt, und der traumatisierte, in den Archivdienst versetzte Polizist Schibig. Warum sie zu Komplizen werden, bleibt spannend und wird erst am Schluss aufgelöst. Zudem sind die Schauplätze des Romans so vertraut wie unheimlich inszeniert: vom Campingwagen über die Villa am See und den Porsche bis zu der an Dürrenmatts Grotesken erinnernden Altnazi-Bruderschaft im Landgasthaus. Clavadetscher rührt hier gewaltig in den mentalen Eingeweiden einer reaktionären Schweiz: äusserlich gutbürgerlich, innerlich faschistoid. Indizien dafür hat sie ausführlich recherchiert und im Nachwort aufgeführt: eine Naziuniform in einem Schwyzer Herrenhaus, eine Fasnachtsclique mit ihrem Auftritt als Ku-Klux-Klan, das Mausoleum für deutsche Soldaten in Chur, das Nazi-Erntedankfest 1942 mit 10’000 Teilnehmenden im Zürcher Hallenstadion, verschwundenes Nazigold in der Schweiz. Und weil sie eine clevere Dramaturgin ist, lässt Clavadetscher den ersten Toten erst einmal in Ruhe in die Leichenhalle transportieren. Unfall oder Suizid? Der Fall ist jedenfalls abgeschlossen. Scheinbar. Natürlich war es Mord, aber der Mörder überlebt den Roman auch nicht, weshalb erst wieder im tatsächlich furiosfeurigen Schluss die Polizei- und Feuerwehrsirenen heulen. Sorry für die vielen Andeutungen – aber mehr sei hier nicht verraten. Clavadetscher lässt uns ein paar Dutzend Seiten lang in unserer Ungeduld zappeln. Denn sie legt nach dem bildstarken Start zunächst gemächlich ein paar lose Erzählfäden aus. Und diese folgen der anspruchsvollen Methode, welche sie bereits im Roman «Die Erfindung des Ungehorsams» angewendet hat, für den sie 2021 den Schweizer Buchpreis erhalten hat. Schon darin verwob sie mehrere Zeiten zu einem Kontinuum. Weshalb Plattentektonik und Drachenlegenden, mittelalterliche Schlachten und die Nazi-Geschichte des 20. Jahrhunderts geradezu verführerisch als unvermeidlich erscheinen: «Ich komme immer wieder, ich bin die Metastase», sagt im Roman einmal eine millionenschwere, bettlägerige Greisin – und meint damit die Wiederkehr ihres geliebten Faschismus, meint Blutlinie, Tatkraft.
«Wir sind ein Störfaktor ... aber wir sind hartnäckig»
Martina Clavadetscher serviert uns nun aber einen optimistischen Roman und eine Erzählung der Ermächtigung. War es in «Die Entdeckung des Ungehorsams » ein feministischer Aufstand in mehreren Jahrhunderten, ist es in «Die Schrecken der anderen» der Kampf gegen die Wiederkehr des Faschismus. Man mag es modisch Empowerment nennen. Jedenfalls sehen die obskuren Altnazis am Ende tatsächlich alt aus. «Wir sind höchstens ein paar lästige Fliegen, ein Störfaktor ... aber wir sind hartnäckig», sagt deshalb einmal die «Alte» zu ihrem Ermittler- Komplizen. Beinahe unnötig zu betonen, dass die Schriftstellerin Martina Clavadetscher sich in dieser aufklärerischen Tradition sieht. Weil die theatererfahrene Autorin aber nicht nur eine hochpolitische Geschichtsgrüblerin ist, sondern auch szenisch dicht, präzis und dialogstark schreibt, wird ihr neuer Roman zu einem Höhepunkt des Schweizer Literaturjahrs.
Bote der Urschweiz / Hansruedi Kugler
Autor
Bote der Urschweiz
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- Literatur
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